Friday, October 24, 2008

Kirchhorst, 21. April 1939


Das Wäldchen hinter unserem Hause heisst die "Fillekuhle" und diente früher wohl als Ort, an dem man das gefallene Vieh verscharrte, da fillen ein verschollenes Verbum für "häuten", "das Fell abziehen", ist. Das Wort lässt sich vielleicht verwenden, wo in den "Marmorklippen" die Schinderhütte zu schildern ist. Übrigens webt auch hier, obwohl seit langem nichts mehr vergraben wird, ein Hauch von üblem Ort. Zum Haus, zum Bild der Menschensiedlung, gehört fast immer ein solcher Platz, zumeist am Rande der Sicht.

Beendet: die Briefe des Erasmus, ein Geschenk vom Astrologen Lindemann. Viele, besonders von den Jugendstücken, sind getränkt von ciceronischer Essenz, die mich in Briefen immer stört. Das Rhetorenfeuer will nicht wärmen, und die eitle Lust der Rede zerstört das mitteilsame Element, das stets den Kern des Briefes bilden muss. Es bleibt für den Empfänger immer unerfreulich, zu merken, dass sich der Autor an ihm in Fechterstücken übt. Doch treten dann sehr schöne Schilderungen auf, wie die des Thomas Morus, an dessen Haushalt er eine Art von schicksalhaftem Glücke preist, durch das ein jeder, der dort lebte, gefördert worden sei. In der begegnung mit Luther tritt der Unterschied hervor, der zwischen Geistern waltet, die innerhalb der Ordnung leben, und den ausserordentlichen. Erasmus selbst hat das an einer Stelle, in einem Briefe an Cäsarius, gut gefasst. "Ich bin bis zum Äussersten gegangen, gleichsam bis an den Rand des Meeres; werde ich mir untreu, wenn ich nicht in die Fluten steigen will?" So ist der Eintritt in die Elemente ihm versagt. Der Unterschied ist auch der von zwei Geistern, deren einer im letzten kritisch und deren anderer im letzten unbedenklich ist. Beim Anblick dieser beiden Fechter erkennt man auch die Stelle, an welcher Nietzsche bedauert, dass es nicht zur Sublimierung der Kirche aus sich heraus gekommen sei, als verfehlt. Auch das historische System geht hin und wieder, um zu bestehen, gleich dem Kosmos in Feuer auf. Ganz ähnlich wünschte ich mir zuweilen die Reihe der französischen Könige bis heute fortgesetzt; wir lebten dann in einem sehr subtilen Rokoko und hätten statt der Technik eine ausgeformte Chinoiserie. Doch der Weltgeist duldet die Filigranarbeit nur dort, wo er ein wenig zaudert - wie wir überhaupt die feinsten Dinge Augenblicken danken, in denen er vergesslich war.

Die guten Lehren, die Erasmus an Luther richtet, sind derart, dass der Täter sie verachten muss. Wenn man jedoch in den Papieren lebt, hat man auch Fuchsgeist nötig, um in solchen Läuften zu bestehn. Das tritt in der Zeichnung von Dürer gut hervor, doch treffender noch in der Medaille von Metsys, auf der man sieht, wie dieser Fuchsgeist sich mit Stärke paart. Ganz unverkennbar sind die Züge hoher Geistesmacht. In diesem Lichte war Europa kleiner, und seine Kapitalen lagen einander näher als heute, wo man es in einer Stunde überfliegt.

(Bild: Erasmus von Rotterdam gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren, 1523)

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