Friday, October 31, 2008

Kirchhorst, 4. Juli 1939


Am Nachmittag nahm Dr. Gerstberger auf der Fahrt von Fischerhude, wo er bei Frau Rilke wohnt, hier kurz Aufenthalt. Ich hörte von Kennern, dass man ihn in der Musik zu unseren stärksten Kräften zählt. Obwohl ich darüber kein Urteil habe, leuchtet mir das ein. Man kann von aussen sehr wohl erkennen, ob ein Mensch in seinem Fache überragt - wenn man den Teil in ihm begreift, der ungesondert ist. Im Schwerpunkt wägen wir auch das verborgene Gewicht. Gespräch über Wagner, Verdi, Bizet.

Im Garten sind an den Zäunen aus verstreuten Samen die Wicken hoch aufgeblüht. Herrliche Farben - zart lachsrot, cremegelb, violett, wie mit dem Pinsel auf feuchten Grund gesetzt.

(Bild: "Überschwemmung bei Fischerhude", Otto Modersohn,1933)

Kirchhorst, 3. Juli 1939


Der Garten beginnt recht gut zu tragen. Auch werden schon Beete für die zweite Bestellung frei.

Im Traume sah ich über einer ausgestorbenen Landschaft eine Staffel von Kampfflugzeugen, von denen eines beim dritten Schuss einer Abwehrbatterie brennend zur Erde fiel. Das Schauspiel vollzog sich inmitten einer völlig mechanisierten Welt; ich betrachtete es mit bösartiger Genugtuung. Der Eindruck war bedeutender, durchdringender als im Weltkriege, weil die Rationalität des Vorgangs gewachsen war. Nichts Episodisches - die Flugzeuge bewegten sich wie elektrisch aufgeladene Teile über einer gleichfalls unter Spannung steheden Welt. Der Treffer rief den tödlichen Kontakt hervor.

Dann weite Felder, auf denen Erntemaschinen liefen; menschliche Wartung war nicht zu sehen. Nur über einen Stoppelacker wurde eine grosse Egge geführt. Sie war mit ockerfarbigen Sklaven bespannt, die ein riesiger Aufseher leitete. Er schlug sie, bis sie schrien und fielen, dann schlug er sie, bis sie zu schreien aufhörten. In diesem Vorgang lag ein Widerspiel stupider Gewaltanwendung und stupiden Leidens, das mich verzweifeln liess.

Am Tage, als ich im Garten war, fiel mir das Traumbild wieder ein. Nun sah ich es als eine Mahnung an; mir wurde die Verantwortung bewusst, die solche Einsicht mit sich bringt.

Kirchhorst, 25. Juni 1939


Zum Kaffe Dr. Ostern, der aus Rhodos kam. Wir unterhielten und über den Strandweg von Trianda und das Rodinotal, das mir in seiner vollen Frische noch im gedächtnis lebt. Er meinte, dass an dieser Stelle der Sitz der Rhetorschule gewesen sei. Dann über Kreta, wo ich im nächsten Sommer leben möchte und das er mir empfahl.

Bei der Post die Tagebücher von Gide, von 1889 bis 1939, ein Geschenk von Hercule.

(Bild: Karte von Kreta aus dem Jahr 1861) 

Kirchhorst, 21. Juni 1939

"Marmorklippen". Die Arbeit schreitet langsam vor, weil ich mir Mühe gebe, den Text vollkommen und in jedem Satze durchzustechen, obgleich vielleicht der Eindruck derselbe bliebe, wenn ich manchen Abschnitt flüchtiger behandelte. Leider fehlt mir dazu die Nonchalance. Das Flüchtige bereitet mir eher doppelt Mühe, weil ich es auf die bereits perfekten Stellen noch auftrage. Das widerspricht den Regeln der Ökonomie. Ich denke dabei an die kleine Statuette, die ich in einem Kloster von Bahia sah: sie war auf ihrem Untergrund vergoldet und auf dem Golde übermalt, statt umgekehrt.

Beim Opus gibt es ein Ganzes, das nicht in der Summe der Sätze liegt. Das Ganze gleicht einem Geleise, das den Leser wie im Fluge über alle Unebenheiten und Unfertigkeiten des Planes führt. Es ruft in ihm die Begeisterung des Lesens, ein köstliches geschenk, hervor.

Thursday, October 30, 2008

Kirchhorst, 18. Juni 1939

Sonnabend/Sonntag Besuch von Edmond und Arnolt Bronnen, der angenehm verlief. Edmond hatte seinen Sohn bei sich, der der verstorbenen Mutter sehr ähnlich sieht. Derselbe weiche und nächtliche Augenaufschlag, nach Eulenart, mit schwerem Lied, das weiss gefiedert ist. Um solche Beobachtungen anzustellen, muss man doch älter werden - mann muss die Generationen sehen.

Unter der Post ein Brief von Storch, der in Brasilien zwölf Stunden in der Gesellschaft eines Negers vor einem glühenden Ofen Bananen trocknet und in der Nacht an seinen Tagebüchern schreibt. Er meint, dass ihn Erstaunen über seine Arbeitskraft ergreift. Wirklich gibt es in uns Reserven unbekannter Art. Es ist ein wahrer Spruch, dass Gott uns mit dem Amte auch die Kraft dazu verleiht. Dasselbe gilt von der Not.

Kirchhorst, 15. Juni 1939


Beendet: Spengler, "Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends", eine seiner letzten Schriften, in der die Drähte recht derb gezogen sind. Dennoch ist dieser Autor in seinen Irrtümern bedeutender als seine Gegner in ihren Wahrheiten. Das Geheimnis seiner Sprache liegt darin, dass sie Herz besitzt und grossen Katastrophen gewachsen ist. In siner Prosa steckt ein Zug, der an die Hürden geht.

Kirchhorst, 11. Juni 1939


Wieder beim Eichbaum von Grosshorst. Im heissen Felde Unterhaltung über die Art und Weise, in der die Schöpfung durch den Darwinismus wie mit dem Stahlstift nachgezogen wird. Friedrich Georg: "Die Tiere gleichen dort den Blumen, die aus Zinkblech nachgebildet sind." Der Überlegenheit, mit der Schopenhauer in seinen Ausführungen über die Vergleichende Anatomie alle derartigen Versuche gewissermassen schon vor ihrem Entstehen entkräftete, wenigstens für gute Köpfe, bleibt immer ein Ruhmesblatt für uns. Dennoch gehört es zur geistigen Mechanik, dass solche Lehren in ihrem vollen Umfang durchlaufen werden müssen und dabei Früchte bringen, denn sie bleiben in ihrem Rahmen wahr. Freilich ist auf den unteren, empirischen Rängen die Wahrheit mühsamer, mit grösserer Bewegung verknüpft. Auch hier lässt sich das Wort anführen, dass, was im Kopfe fehlt, von den Beinen geleistet werden muss.

Zum Kaffee sprach ein finnischer Professor vor mit Frau und Kind und brachte aus Oslo Grüsse vom Magister mit. Er meinte, dass Polen im Herbst auseinanderbrechen werde, was mir doch fraglich scheint. An dem Besucher wurde mir die Lage des Einzelwissenschaftlers deutlich, die sehr gefährdet ist. Sie hat sich der des Arbeiters angeglichen, der hinter der Maschine steht. Der Mensch ist aus dem Werk herausgetreten, das autonom geworden ist, und wird nun immer ersetzbarer und entbehrlicher. Man kann ihn auswechseln wie einen Maschinenteil, und auch die Ergebnisse, zu denen er gelangt, ja selbst die Erkenntnisse, sind ausser ihm geboren und instrumentieren den Vorgang mehr, als dass die in ihn eingreiffen. Die Unentbehrlichkeit des Menschen schwindet mit seiner Originalität und damit auch der Respekt vor ihm. Die Sicherheit dagegen eines Mannes noch wie Paul Gerhardt inmitten der Verfolgungen ist ungeheuer gross.

(Bild: Paul Gerhardt Sondermarke zum 350. Geburtstag, 1957)

Kirchhorst, 10. Juni 1939

Bei grosser Hitze kappten wir die hohe Weide vor den Quitten- und Pflaumenbäumen, denen sie Licht und Luft wegnahm. Der Nachbar Colshorn, der nun im Sterben liegt, gab mir den Rat dazu. Wir unterhielten uns darüber, wie weit sein Schicksal wohl zu dem des Baumes in Beziehung steht. Dann über den Mandarin bei Diderot, der dort in ähnlichem Zusammenhang geschildert wird. Ich glaube es handelt sich darum, dass die Art und Weise, in der in Paris ein Vatermord verübt wird, in genauer Harmonie dazu steht, ob dieser Mandarin in China sich mit dem rechten oder mit dem linken Fusse zuerst aus seinem Bett erhebt. Der Gedanke ist in seiner Mechanik sehr 18. Jahrhundert, doch auch lehrreich hinsichtlich der Magie, die in den Schnörkeln verborgen liegt.

Köstlicher Duft des geschälten Weidenholzes und der Rinde, der in der Hitze ein kühlender Geruch nach frischem Gurkenfleisch entströmt.

Kirchhorst, 5. Juni 1939


Bei glühender Hitze Kartoffeln gehackt, damit das Unkraut schneller dahinkränkelt. Doch finde ich diese Tage viel weniger erschlaffend als die der Schwüle am Bodensee, den man im hohen Sommer fast immer unter einer glasigen Kuppel flimmern sah. Mir scheint sogar, dass diese Art der Wärme stimuliert.

Chateaubriand. Ludwig XVIII. schreibt an Decazes über seine Bücher, dass er sie "un peu en diagonale" liest. Villèle meint über Chateaubriand:
"Ich bin nicht eifersüchtig, er hat bedeutend mehr Geist als ich. Aber ich habe eine stärkere Urteilskraft als er, und es ist nicht der Geist, welcher der Urteilskraft Anweisungen zu erteilen hat, sondern umgekehrt."
Indessen setzt die Bemerkung selbst schon Geist voraus. 

Am Abend kredenzte ich einen Sorbet aus Akazienblüten, an dessen orientalischem Arom Friedrich Georg sein Wohlgefallen äusserte und der sich vielleicht durch Kühlung noch verbessern kässt.

(Bild: Ludwig XVIII, 1814 bis 1824 König von Frankreich)

Kirchhorst, 4. Juni 1939


Im Garten herrscht grosse Trockenheit, daher sind wir nach Sonnenuntergang mit Eimern und Kannen unterwegs. Nach solcher Giesskampagne fallen die beiden Arbeitsstunden am Abend aus, in denen ich noch Papiere ordne und Briefe schreibe, doch ist die Zeit nicht übel angewandt. Im Herbst gedenke ich Torf und Laub einzugraben, damit der Boden besser das Wasser hält.

Am Morgen in der Kirche, wo der neue Pastor aus Isernhagen predigte. Nachmittags zur Fillekuhle, auf welchem Wege Friedrich Georg mir einen zweiten Vortrag über die "Illusionen der Technik" hielt. Am Abend las ich drei Gedichte von ihm auf Fahnen, die Herbert Steiner aus Zürich sandte und von denen das mit der Überschrift "Die Mutter" mir vor allem durch seine Kraft gefiel. Er meinte, dass diese Art von Versen, in denen die Elemente sich bewegen, ihm heute nicht mehr gelinge, weil seine Sprache stärker auf die Schilderung des Reglosen gerichtet sei. Dann Unterhaltung über das Bild vom Liebeszauber, Rimbaud, Rodin, das Erechtheion auf der Akropolis. Die Nähe von Friedrich Georg ist seit den Kindertagen ein grosser Trost für mich.

(Bild: Das Erechtheion, zwischen 420 und 406 v. Chr. erbaut)

Wednesday, October 29, 2008

Kirchhorst, 1. Juni 1939


Die alte gefällte Eiche bei Grosshorst. Wir suchen sie an schwülen Nachmittagen auf und treiben subtile Jagd. Die Widderböcke, sammetschwarz mit sammetgelber Hieroglyphenbänderung. Sie irren im Eifer der Begattung auf der heissen Borke, taumelnd vor Brunst und Sonnenlust, verharren dann nach der Trennung noch eine Weile wie von Sinnen und schwirren flüchtig ab. Sodann der rote Phymatodes, purpurfilzig, den ich bisher nur einmal, 1915 bei Saint-Léger in Frankreich, traf. Ferner die Buprestiden, die Chrysobothris am schönsten vertritt. Erzfarben und mit goldenen Gruben entfaltet er die Flügel, unter denen das zweite Flügelpaar gleich leuchtendgrünen seidenen Dessous erscheint. Und viele andere.

(Bild: Chrysobothris affinis)

Kirchhorst, 29. Mai 1939


Über Pfingsten Besuch aus Goslar: Meister Lindemann. Gespräche über Horoskope, Kräuter, Gärten, Medizin. Nachdem wir ihn zum Autobus gebracht hatten, sammelten wir Taubnesselblüten, die zahlreich im Garten wachsen und die er uns zum Tee empfohlen hat. Die Ernte steht neben mir, ein tiefer Teller voll weisser Blütenblätter, die zart ins Grüne spielen und deren jedes vier winzig kleine schwarze Pünktchen trägt.

(Bild: Taubnessel, Laminum)

Kirchhorst, 27. Mai 1939


Fortschreitende Besserung. In den "Marmorklippen" ersetzte ich, vorläufig, den Namen "Kupferottern" durch "Lanzenottern", was zoologisch mehr Zwielicht hat. Auch kondenziere ich, dass auf den Marmorklippen Geier zu Hause sind. Endlich muss ich mich über grosse Hunderassen unterrichten, damit der Kampf der Hetzer genau genug gerät. Im Treffen der Hunde mit den Schlangen schwebt mir die Begegnung des Blutes mit einer seiner Quitessenzen, dem Gifte, vor.

Am Nachmittag mit Friedrich Georg in Moormühle, wo wir dann beim Kaffee an den Autofahrern Studie machten, sodann nach Heessel und auf schmalen Pfaden in die Wälder um Kolshorn. An einem Kreuzweg erfreute uns ein alter Wegweiser aus Eichenholz, als eine der saturnischen Gestalten, wie sie Kubin liebt. An dieser Stelle hörte ich zum ersten Mal im Jahre in den Eichenkronen die hellen Glockentöne des Pirols.

Im Fahren erklärte mir Friedrich Georg, der sonst nur selten über seine Arbeit spricht, den Aufbau einer Schrift, die ihn beschäftigt und den Titel "Die Illusionen der Technik" führt. Er erwähnte dabei das Hinken des Wieland und des Hephäst als typischen Defekt. Dann über die Art des Feuers, das Prometheus den Göttern stahl. Im Wechsel des Gespräches kamen wir auf die Orgie des Dimitri Karamasow; als Prunk- und Schreckensstück slawischer Lust. Dahinter ragt der Vatermond symbolisch auf. Bei dieser Unterhaltung flog eine Turteltaube im heissen Tannicht vor uns her, von zierlicher Gestalt, mit hellem Fächerband.

Spät noch im Garten Kohl, Sellerie und Tomaten gut gedüngt. Auch hierfür gilt mein Sprüchlein, dass man mit den Gewürzen erst im Lauf der Jahre sichere Hand gewinnt.

(Bild: Der Pirol, Oriolus oriolus)

Tuesday, October 28, 2008

Kirchhorst, 26. Mai 1939


Verstimmung, die eigentlich, wo alles so schön blüht, unbegründet war. Die grossen Goldregenbüsche, die im Garten so herrlich leuchten, beweisen, dass es an Überfluss nicht fehlt. Auch schaffe ich jeden Morgen nicht übel an den "Marmorklippen", in denen ich die Schilderung des Pater Phyllobius beendete, wobei ich, wie ich hoffe, die katholischen Klischees vermied.

Am Nachmittag in Burgdorf, wo ich immer gerne bin. Die Stadt hat etwas unzerstörbar Trockenes, das allen Irrwegen der Historie in der Substanz gewachsen scheint. Freilich lebt in ihr auch von Erhebung und hohem Fluge keine Spur. Wenn ich die alten Häuser sehe, erfasst mich Hoffnung, dass das Menschheitsgeschlecht so bald nicht ausgerottet werden wird. Spät, aber mächtig beginnt mir einzuleuchten, was Stetigkeit im Leben heisst.

Auf dem Friedhof, der in voller Blüte war. Immer erfreut mich auch das Bild von Kindern, die dort spielen, während die Mütter an den Gräbern tätig sind. Auf einem der Hügel eine Staude von Tränenherzen, die sich sehr gut als Gräberpflanzen eignen, in reichem Flor. Die roten Tropfenblüten schaukelten wie Medaillons im zarten Wind. Ich dachte über meinen eigenen Grabstein nach, auf dem ich nur den Namen und die beiden Daten wünsche, und das Sinnen darüber war mir angenehm.

Auf dem Rückweg machte ich mir in der Nähe von Beinhorn an einem kleinen Kahlschlag halt und sass auf einem Eichenstumpf zwischen halbentrollten Farnen, deren Triebe noch brauner Sammet deckte, im Sonnenschein. Hier wurde mir ein wenig besser, und ich erfreute mich, wie schon so oft in solcher Stimmung, durch die subtile Jagt. Bereits auf dem Wege war mir der kleine Rüssler Magdalis armiger angeflogen, der seinen Namen den zwei Stacheln verdankt, die er am Halsschild trägt. Sodann entdeckte ich unter Eichenrinde den winzigen Laemophloeus duplicatus, den ich dann unter dem Mikroskop nicht nur dank seinen beiden Leisten, die Kopf und Halsschild zieren, bestimmte, sondern ich erkannte sogar die schmale Mittellinie, die nur zuweilen zu sehen ist, mit grosser Deutlichkeit. Aus dem verpilzten Eichenholz löste ich ferner einen Scolytus intricatus - und zwar ein Männchen, wie die beiden feinen Haarpinsel bewiesen, die es aufgerichtet auf der Stirne trug. Endlich wäre noch der gefleckte Litargus zu erwähnen, mit dem ich erst im vergangenen Sommer im Klosterforste zwischen Überlingen und Birnau Bekanntschaft schloss. Wie oft in solchen Fällen erscheint er mir jetzt nicht mehr selten - denn man lernt nicht nur die Tiere kennen, sondern vor allem die Art und Weise, sie im grossen Rebus der Natur zu sehen.

(Bild: Gefleckter Litargus)

Kirchhorst, 19. Mai 1939


Der Schwager holte uns im Auto ab, und wir verbrachten den Tag im Lippischen und am Steinhuder Meer. In Rehburg strichen wir lange ums Vaterhaus und sahen das Giebelfenster, hinter dem Friedrich Georg und ich so viele Jahre hausten, bis dann der Krieg ausbrach. Wir sahen auch das Erkerfenster vor dem Zimmer, in dem wir, wenn die Eltern auf Reisen waren, unsere ersten galanten Feste zu vieren feierten. Wie lange liegt das schon zurück.

An den Bäumen, deren Umfang ich nach so vielen Jahren noch deutlich im Gedächtnis hatte, fiel mir auf, dass die Linden und die Kugelakazien nur sehr schwach gewachsen waren, viel stärker alle Obst- und Buchenstämme und am weitaus stärksten eine Trauerweide, die wir etwa 1912 als Rieslein an ein Wasserbecken gepflanzt hatten und die inzwischen riesenhaft gediehen war. Viel wirkt bei solchen Unterschieden wohl auch die Güte des Bodens mit. Vor allem aber merkte ich die andere Zeit, in der wir uns befinden, an den Entfernungen, die ich sämtlich als Strecken im Gedächtnis hatte, die man zu Fuss durchmisst. Nun flogen wir im Auto in Minuten zwischen diesen Punkten hin und her. In manchen Augenblicken aber war ich völlig in der alten Zeit, die in das Neue labyrinthisch eingebettet war.

Zu Mittag in Bad Rehburg, im Hotel von Tegtmeyer, der mit Friedrich Georg in einer Klasse war. Wir tauschten beim Wein Erinnerungen aus. Sehr gut, mit welcher Sicherheit er sich zuweilen mitten im Gerspräch erhob, um andere Gäste zu bedienen, und wie er dann zurückkehrte, mit einem Lächeln, das der Demaskierung glich. Wir fanden einen Zug an ihm, der ihn als Pastor gut gekleidet hätte, doch auch dem Wirt nicht übel stand. Übrigens ruht unter jedem Stande ein sakrales Fundament.

Wir tranken dann im Matte-Schlösschen Kaffee, im kleinen Zechgelass des Turmes, von dem aus man die Urlandschaft mit ihren Wässern, Mooren, Brüchen überschaut - die Wildnis, die Germanicus durchzog. E sliegt viel Melancholisches in ihr, auch Bitterkeit.

Dann in Stadthagen, wo wir im Schwefelwasser einer Kraterquelle Blumensträusse sahen, die dort seit vielen Jahren in Form und Farbe unverändert stehen - ein Schauspiel, das ich zauberhaft und auch ein wenig wiedrig fand. So könnte ein Tyrann vielleicht die Köpfe der erschlagenen Feinde aufbewahren, um sich, wenn er in seinem Garten wandelt, stets von neuem an ihrem Anblick zu erfreuen. Über die Autobahn, die ich zum erstenmal befuhr und deren hohes Mass an Technik mich erstaunte - machina machinarum - nach Kirchhorst zurück.

Unter der Post ein Album mit Bildern von Toulouse-Lautrec, mit einer Karte von René Janin. Um diese Farben zu geniessen, müsste man sich auf die Reize von Blumen verstehen, die im Welken sind. Es steckt auch Satanismus darin, wie es im Bilde der granatfarbenen Lusthölle mit dem Titel "Au salon" besonders deutlich wird. An anderen Stellen leuchtet das auch positiv hervor, so in der "Mailcoach", die auf glühendem Chassis vorüberwettert, während der Boden unter den Hufen der Vollblutpferde explodiert. An solchen Stücken wird man sich gewiss noch lange freuen; doch merkt man, wenn man sie betrachtet, wie sehr das Bild des 19. Jahrhunderts in uns noch schwimmt.

(Bild: "Le comte Alhonse de Toulouse-Lautrec conduisant un attelage à quarte chevaux", Henri de Toulouse-Lautrec, 1881)

Kirchhorst, 17. Mai 1939


Seit ich in der Mansarde wohne, bekomme ich Friedrich Georg oft erst am Mittag zu sehen. Heute sprachen wir nach dem Essen über den "style imagé", den Marmontel verwirft. Von dem, was Friedrich Georg dazu sagte, fand ich besonders gut, dass in der Sprache nicht nur die Bilderschrift und jene der Begriffe sich unterscheiden liessen - ein Drittes sei der inspirierte Stil.

Dann über Breughel und den "Verlorenen Sohn" von Bosch. Dies Bild, das wir bei der Versteigerung vor Jahren betrachteten, hat auf uns beide stark gewirkt. Der Sohn mit weissen Haaren, an Gut und Leib und Seele aufs letzte abgeschabt. Man sieht, dass er nie mehr zu Hause ankommen wird, und hierin übertrifft der Maler an Härte den Bibeltext. Im Hintergrund die Kaschemme Welt, als wüste Trug- und Gaukelbude dargestellt, vor der ein Säufer pisst, während eine Hure die Brüste aus dem Fenster hängen lässt. Längst ist vergessen, der hierin Erbteil, Ehre, Gesundheit liess. Die Schädigung ging bis zum Kern. Besonders schrecklich ist, dass auf diesem Bilde das ganze verfehlte Leben sich in die Perspektive eines Augenblicks zusammendrängt. In solcher Erfassung wird die Malerei von keiner anderen Kunst erreicht.

Nach Sonnenuntergang Tomaten eingesetzt. Die Pflanzen gehen ganz ohne Kränkeln an, wenn man die Ballen in einen Brei aus Wasser, gedüngtem Torf und Erde senkt. Dies ist ein Rezept, das mir der Makler Belz aus Überlingen empfolen hat. So haben wir in unserer Lebensschule viele Lehrer, und manchem verdanken wir nur einen isolierten Fakt.

(Bild: "Der verlorene Sohn"; auch "Der Landstreicher", Hieronymus Bosch, 1450)

Monday, October 27, 2008

Kirchhorst, 15. Mai 1939


Die dunkle Lilie, die gleich einem kleinen Palmbaum am Rande des Chrysanthemenbeetes spriesst. Sie schleudert die Wirtel ihrer schmalen Blätter in einer kühnen Drehung von sich, wie eine Tänzerin ihr Kleid. An dieser Pflanze sehe und geniesse ich das Wohlbehagen, das sie an ihrem Boden und ihrem Wachstum hat. Auch ist die Kraft in ihr so wunderbar gedrängt und eingeschlossen wie in eine Statue. Die Eile ist ihr fremd; sie weiss, sie kommt zur Reifezeit zurecht.

(Bild: Stilisierte Lilie, Bronze, Frankreich)

Kirchhorst, 14. Mai 1939

Heute, am Sonntagnachmittag, besuchte mich ein dreiundzwanzigjähriger Leser, der als Gefreiter in Braunschweig dient. Wir tranken unter den Buchen zusammen Kaffee und gingen dann ins Moor. Es fällt mir auf, dass jeder, den ich auf diese Weise kennenlerne, mehr oder minder leidet, ohne dass ihm zu helfen ist. Die Zeit hat Ähnlichkeit mit einem bösen Engpass; die Menschen werden durch ihn hindurchgepresst. Vor allem habe ich, auch schon rein physiognomisch, den Eindruck, dass sie fast völlig im Bewusstsein leben und viel zu sehr mit den Gedanken an die Lage, in der sie sich befinden, beschäftigt sind. Sie zeigen Symptome von Examenangst; auch sind sie durchaus wach, und es ist seltsam, dass der Wille zum Glück und auch zum Ungebahnten so schwach in ihnen ausgebildet ist. Hier hat man immer das Gefühl, dass man mit Dauerläufern oder, was noch beklemmender, mit Dauerläuferinnen spricht. Wo wohl der Weltgeist heute seine Träumer und Schläfer in Reserve hält?

Kirchhorst, 10. Mai 1939

Rote Rüben, Radieschen, Buschbohnen in die Beete, Krauskohl und Steckrüben in Schulen ausgesät. Vom Krauskohl ausser der gewöhnlichen auch eine dunkelrote, fast ins Schwarze schillernde Art - aus optischer Liebhaberei. Desgleichen will ich an den Stangen Türkenbohnen, der roten Blüten wegen, ziehen. Auch die Hühner sollten von einer Rasse sein, an der das Auge Freude hat. Nur so kann auch das Ökonomische gedeihen. Man muss mehrmals am Tage Lust verspüren, die Pflanzen und Tiere aufzusuchen, um sich an ihrem Anblick zu ergötzen, muss man abends auch, bevor man einschläft, sie im Geiste sehen.

Hat der Mann erst eine Frau gewonnen, so wird er auch gegen die anderen kühner; der Erfolg erstreckt sich zugleich auf das ganz Geschlecht.

Kirchhorst, 9. Mai 1939


Bei immer noch kühlem und feuchtem Wetter Kohl und Sellerie gepflanzt.

Die Feuchtigkeit als Lebenselement. Andrang der Säfte beim gesteigerten Genuss: das Wasser, das uns vor guten Bissen im Mund zusammenläuft, die Wallung des Blutes und die Sekrete beim Liebesspiel. Wir stehen im Saft. Auch Schweiss und Tränen bedeuten, dass das Leben in tiefern Regionen der Gesundheit tätig ist. Schlimm stehts um den, der nicht mehr schwitzen und nicht mehr weinen kann. Dann das Humide im Geistigen, etwa das Saftige, das Moosige und Wälderfrische im Gedicht. Vor allem das Quellende, der Überfluss an Worten und Bildern, in den die festen Partikel schwimmend eingebettet sind.

Die Feuchtigkeit bei Rubens, besonders an den Stellen, an denen das Fleisch sich rostig färbt. Unübertrefflich ist dort alles, was Lust am Leben ist. Bei den Romanen ist das feuchte Element verborgener, oft wie in Muscheln eingeklappt. Damit hängt auch zusammen der Hunger oder vielmehr Durst nach nördlicherem Blut.

Dagegen die Qualität des Trockenen. Süsse, Arom. Nietzsches Wendung zum Trockenen, zur Wüste, zu den goldschwürigen Datteln, von Wagner zu Bizet. Das intensive Leben, das durch Aufgüsse entsteht. Oasen. Zisternen. Harems. Intarsia.

(Bild: Bündnis der Erde mit dem Wasser, Peter Paul Rubens, 1618)

Sunday, October 26, 2008

Kirchhorst, 6. Mai 1939


"Über den Schmerz". Wenn ich diese Arbeit revidiere, wäre hinzuzufügen ein Abschnitt über die Bitterkeit. Die Bitterkeit des Alterns, insbesondere bei Frauen, die Bitterkeit der Enttäuschungen, über Ungerechtigkeiten und irreparable Fehlschläge, endlich die Bitterkeit des Todes, dem niemand entflieht. Die Bitterkeit stellt sich erst in der zweiten Hälfte des Lebens ein, wenn mit den Falten im Gesicht auch Linien des Schicksals in ihrem unabwendbaren Charakter hervortreten. Auch sie zeigt eine Art verlorener Unschuld an.

(Bild: Marguerite Duras, Richard Avedon, 1993)

Kirchhorst, 4. Mai 1939

Da mir das Arbeitszimmer zu sehr im Innern des Hauses liegt, richtete ich mit Hilfe von Perpetua und Louise auf dem Boden eine Eremitenklause ein. Von jeher hatte ich für verstaubte Böden eine Neigung; man webt in ihnen wie im Reiche der Vergessenheit.

Es scheint mir, dass in unbewohnten Räumen ein Stoff sich häuft, ein Geisteshumus, aus dem die Bildkraft reiche Nahrung zieht. So flossen mir, als ich in Überlingen im Keller schlief, in Fülle Träume zu. Ganz ungeheuerlich war dieser Einfluss, als ich im Krieg in Douchy einen leeren Unterstand bezog, der in den Gärten lag. Ich verliess ihn nach der ersten Nacht. Hierher gehören wohl auch die Geschichten von Gästen, die in verstaubten Kammern alter Schlösser übernachten und dort spukhafte Dinge sehn. In Räumen, die wir lange Zeit bewohnten, verbraucht sich diese fremde Kraft; sie gleichen altbebautem Grund. Auch leuchtet ein, dass man im Volke der ersten Nacht in einem neunen Haus und ihren Träumen mantische Bedeutung gibt.

Kirchhorst, 3. Mai 1939


Fahrt nach Burgdorf, zusammen mit Friedrich Georg. Am Wege die leuchtendgelben Blüten des Löwenzahns, Leontodon. Der Name dieser Pflanze ist gut gewählt; sie ist, wie auch der Löwe, solarischer Natur. In den Dörfern die starken Eichen, wie die letzten Bäume des Donar anzusehen. Oft fällt es mir wie Schuppen vor den Augen; die Höfe liegen dann ganz unverhohlen im alten Heideglanze da. Ich blicke ins Innerste und Unverletzliche der alten Heimat und glaube, dass wir so im Tode die Flügel des Vaterhauses weit offen sehen und die Tenne glänzen im feierlichen Licht.

In Burgdorf kehrten wir, da am Rade von Friedrich Georg die Sattelfeder gebrochen war, bei einem jungen Schmiede ein. Die kleine Werkstatt, die nach Eisen roch, war überfüllt mit Dingen, die bedeutungslos geworden waren, vor allem mit abgeschraubten Rädern, die in den Ecken verstaubten und verrosteten. Andere hingen an den Wänden wie Opfergaben im Tempel des Vulkan. Wenn man, wie ich es tat, ganz unbeteiligt einen solchen Platz betrachtet, gewinnt die Menschenarbeit oft einen wunderlichen Sinn.

(Bild: Donar, Gott des Donners, von Mårten Eskil Winge, 1872)

Kirchhorst, 1. Mai 1939


Der Hagel hat den Pflanzen recht geschadet; so hat er von unserem Mandelbäumchen die Blüte abgestreift, die wie ein rosa Hemdchen unter ihm am Boden liegt.

Den ersten Monat am neuen Ort. Besonders gefällt mir an der Wohnung den Mangel an Komfort, wie er mir in den kleinen Neubauvillen zuwieder geworden ist. Das Haus ist wie ein Niedersachsenhof gebaut; an seinen Wohnraum stösst die grosse Scheune mit den Ställen, die ich im Laufe der Zeit mit Tieren bevölkern will.

Kirchhorst, 30. April 1939

Die Dome als Fossilien, die in unsere Städte wie in späte Sedimente eingeschlossen sind. Doch liegt es uns sehr fern, von diesen Massen auf die Lebensmacht zu schliessen, die ihnen zugeordnet war und die sie bildete. Was in den bunten Schalen lebte und was sie schuf, das liegt uns ferner als die Ammoniten der Kreidezeit; und leichter stellen wir aus einem Saurierknochen, den wir in einer Schiefergrube finden, das Bild des Tieres, das dazu gehörte, wieder her. Man kann auch sagen, dass die Menschen von heute diese Werke sehen, wie ein Trauber die Formen von Geigen und Trompeten sieht.

Nachmittags bei schwülem Wetter mit dem Bruder im Moor. Gespräche über die Unterscheidung von Nihilismus und Anarchie. Friedrich Georg sieht diese Differenz auch darin, dass der Nihilismus sich ausgedehnte Ordnungsformen zu eigen machen kann. Man könnte darin vielleicht ganz allgemein den Satz aufstellen, dass sichtbare Ordnungen im gleichen Masse wachsen müssen, in dem die innere Harmonie verloren geht. So wächst die Zahl der Ärzte im Verhältnis, in dem die Heilkraft sich verliert.

Spät ein Gewitter, dass mit Hagel vom Moor her kam.

Saturday, October 25, 2008

Kirchhorst, 29. April 1939


Vorm Einschlafen dachte ich lange über die blaue Farbe nach, die ich gestern in der Schale erblickt hatte. Ich wollte ihr einen Namen geben, und erst an der Schwierigkeit, auch nur annähernd einen Vergleich zu finden, erkannte ich die Art des Einblickes. Ich hatte jenseits der Farbenwelt geweilt.

Im Taum hörte ich einem Gespräch von Bauern über die Landschaft zu. Einer sagte: "Im Sommer schall dat Moor gegrüelt weren" - das heisst gegreuelt, worunter er, wie ich sogleich begriff, das Aufreissen mit einer scharfen Pflugschar bis zum Grunde verstand.

Um vier erwachte ich und hörte bis um halb sechs die Schläge der Kirchenuhr. Indem wir so zu wachen glauben, ist es doch meist ein heller Schlummer, in dem wir liegen - wir scheren dann den Schlaf.

Aus Paris, von Hercule gesandt, die letzte Nummer des "Crapouillot": "Les Bas-Fonds de Paris" mit Bildern und Schilderungen aus den Lupanaren und einem kurzen Wörterbuch des Argot. In diesem finde ich für "weinen": chialer, was eigentlich besagen will: "chier les yeux". Ich notierte das als Beispiel dafür, bis zu welchem Grade sich die Sprache mit Kot anfüllen kann. Ein Wort hat oft so viele Synonyma, wie es Stufen der Gesellschaft gibt.

Abends Friedrich Georg vom Autobus geholt.

Kirchhorst, 28. April 1939


Lebhafte Nacht. Zunächst erschien mir Kniébolo, den ich schwächlich und melancholisch und des Anschlusses bedürftig fand. Er reichte mir herrlich vergoldetes Konfekt; man hatte ihm davon, wie er sagte, Unmengen zu seinem Namenstag geschenkt. Sodann sah ich ein Bild der Lebensbahn, die wie ein Sprunggraten gebildet war. Es gab da Labyrinthe, spiegelbildliche Abteilungen und viele Schranken, die nur nach einer Richtung zu durchschreiten waren; auch Pforten, die ins Freie müdeten.

Dannn leuchtete eine neue Fluoreszenz mir ein - aus Gold und Blau. Ich schüttelte in einer Schale Kristalle und Kügelchen, die bald in reinem Gold, bald leuchtend blau erglänzten, und während dieses Schwenkens stieg ein leichter Donner aus dem Gefässe auf. 

In einem Kreis illustrer Handwerksleute stellte ich mich als Silbenstecher vor.

Um zwölf Uhr mittags in Perpetuas Zimmer am Radio. Perpetua , Louise und die dicke Hanna sassen auf Stühlen, während ich auf dem Sofa lag, fast wie in Mauretanien. Dann Kartoffeln gesteckt, wobei man hierzulande eine Hacke mit breiten Blättern und einen weiten Rechen zum Furchenlegen benutzt. Dieses Werkzeug wird Tog, sprich Toch, genannt, was wohl mit Ziehen zusammenhängt. Stockrosen umgepflanzt. Unterhaltung mit dem Glaser, bei dessen Anblick ich mir, übrigens zum ersten Mal im Leben, dachte: "So möchtest du später auch aussehen", denn er verband die Alterszeichen mit einer angenehmen Art von Kindlichkeit. Der kleine Alexander, der jeden "Onkel" nennt: die Kinder wissen noch, dass alle Menschen Brüder sind.

Der starke Balken am Scheunentor wird hier der Dössel genannt.

(Bild: Der Kniébolo)

Kirchhorst, 26. April 1939


Im Garten gegraben, damit er vor dem Bruder bestehen kann. Wieder Erbsen, die den schönen Namen Englische Säbel führen, gesät und vor den Spatzen durch Bespannung mit alten Gardinen geschützt. Noch einmal auf Hydrophilenjagd im Moore, da ich einige Arten zum Studium der Unterseite auf Cellon fixieren will. Die Stellen, an denen die Heidekrume mit dem Spaten geglättet ist. Auf ihrem fetten Torfe wie auf einer schwarzen Tenne die Glockenheide und der Sonnentau, dann blühende Gräser und junge Birkensaat. An den Rändern, mit noch geschlossenen rosa Blüten, ein hohes heideartiges Kraut, wohl die aus Kanada eingeschleppte Kalmia. Auf der belebten Fläche jagend der Feldsandläufer, bald schimmernd seidengrün, bald etwas matter, moosiger. Ein Stück, das ich, mehr zum Ergötzen, ergriff, erwies sich gleich als eine Spielart, die den Namen Connata führt - auf ihrem Rückenschild sind die beiden hellen Makeln in der Mitte zur Bindenform vereint.

"Marmorklippen". Es fiel mir noch kein rechter Name für die Gestalt des Bruders ein, den ich zunächst Profundus nannte, welcher Dreiklang indessen zu schwer im Satze wiegt. Deshalb setzte ich vorläufig Felix für ihn ein, was reichlich farblos wirkt. Vielleicht entschliesse ich mich zu Otto oder Otho, was rein vokalisch sich in jede Wendung einfügen lässt.

(Bild: Breitblättrige Lorbeerrose, Kalmia latifolia)

Friday, October 24, 2008

Kirchhorst, 25. April 1939


Bei der Post mein Wehrpass, den das Bezikskommando Celle sendet und aus dem ich ersehe, dass der Staat mich in dem Range eines Leutnants z. V. in seinen Listen führt. Die Politik in diesen Wochen erinnert an die Zeit dicht vor dem Weltkriege. Neuartig ist jedoch die hohe Empfindsamkeit der Massen, die im wachsenden Kontrast zur fürchterlichen Steigerung der Mittel steht. Ich nehme indessen an, dass beides ein und demselben Grund entwachsen ist und dass hier viel Schein regiert. Schrecklich ist und bleibt zu allen Zeiten nur eine Grösse - der Mensch, von dem die Waffen nur angesetzte Glieder und geformte Gesinnung sind.

Ferner eine Karte von Friedrich Georg, der Ende der Woche aus Leisnig kommen wird.

Am Morgen, an dem zum ersten Male seit vielen Tagen das Wetter freundlich war, sann ich im Garten bald über die Arbeit an den "Marmorklippen", bald über die Wühlrattenplage nach. Mit den Gärten ist es bestellt wie mit dem Leben überhaupt, in dem uns für jeden Vorteil auch ein Übel zugemessen wird. Wenn der Boden schön locker ist, dann trocknet er auch leichter aus; wer in den Tropen zehnfache Ernte zieht, bekommt neun Plagen mit in Kauf. Wir sind nun einmal auf kärglichen Gewinn gestellt und müssen damit zufrieden sein.

(Bild: Friedrich Georg Jünger)

Kirchhorst, 22. April 1939


Unter der Post ein Brief von einem Herr Reynier aus Paris. "Donner tout Stendhal pour une seule poésie de Hölderlin. Donneriez-vous une bouteille de Chambertin pour un civet de lièvre? On a besoin de Stendhal comme on a besoin de Hölderlin. Das l'ordre des nourritures, i'l n'y a pas plus d'hiérarchie que dans une vue que le regard découvre d'une montagne."

Diese Stelle des Briefes steht unter anderen Notizen über das "Abenteuerliche Herz", von dem er, wie ich sehe, die erste Fassung gelesen hat. Sie bezieht sich auf den wertenden Vergleich zwischen Stendhal und Hölderlin, der dort zu finden ist, und macht den Abweg deutlich, der in einem solchen Unterfangen liegt. Solange freilich der Wille in uns lebendig ist, sind wir geneigt, die Grössen auf diese Weise gegeneinander auszuspielen; auch liegt in diesem Urteil ein wenig von der Stimmung, wie ein verlorener Krieg sie im Gefolge hat. Ich nahm es daher in die Zweite Fassung, die etwa vor Jahresfrist erschienen ist, auch nicht mehr auf.

Dieser Passus gehörte damals zu denen, die vor allem an dem Buch gefielen; er galt für einen guten Fechterstoss. So gibt es immer Geister, die uns in dem bestärken, was in uns am schwächsten ist, wenn wir nur in der Polemik mit ihnen einig sind; und leider sind sie viel häufiger als jene, denen ein gutes Urteil, das auf die Sache geht, gelingt.

(Bild: Stendhal)

Kirchhorst, 21. April 1939


Das Wäldchen hinter unserem Hause heisst die "Fillekuhle" und diente früher wohl als Ort, an dem man das gefallene Vieh verscharrte, da fillen ein verschollenes Verbum für "häuten", "das Fell abziehen", ist. Das Wort lässt sich vielleicht verwenden, wo in den "Marmorklippen" die Schinderhütte zu schildern ist. Übrigens webt auch hier, obwohl seit langem nichts mehr vergraben wird, ein Hauch von üblem Ort. Zum Haus, zum Bild der Menschensiedlung, gehört fast immer ein solcher Platz, zumeist am Rande der Sicht.

Beendet: die Briefe des Erasmus, ein Geschenk vom Astrologen Lindemann. Viele, besonders von den Jugendstücken, sind getränkt von ciceronischer Essenz, die mich in Briefen immer stört. Das Rhetorenfeuer will nicht wärmen, und die eitle Lust der Rede zerstört das mitteilsame Element, das stets den Kern des Briefes bilden muss. Es bleibt für den Empfänger immer unerfreulich, zu merken, dass sich der Autor an ihm in Fechterstücken übt. Doch treten dann sehr schöne Schilderungen auf, wie die des Thomas Morus, an dessen Haushalt er eine Art von schicksalhaftem Glücke preist, durch das ein jeder, der dort lebte, gefördert worden sei. In der begegnung mit Luther tritt der Unterschied hervor, der zwischen Geistern waltet, die innerhalb der Ordnung leben, und den ausserordentlichen. Erasmus selbst hat das an einer Stelle, in einem Briefe an Cäsarius, gut gefasst. "Ich bin bis zum Äussersten gegangen, gleichsam bis an den Rand des Meeres; werde ich mir untreu, wenn ich nicht in die Fluten steigen will?" So ist der Eintritt in die Elemente ihm versagt. Der Unterschied ist auch der von zwei Geistern, deren einer im letzten kritisch und deren anderer im letzten unbedenklich ist. Beim Anblick dieser beiden Fechter erkennt man auch die Stelle, an welcher Nietzsche bedauert, dass es nicht zur Sublimierung der Kirche aus sich heraus gekommen sei, als verfehlt. Auch das historische System geht hin und wieder, um zu bestehen, gleich dem Kosmos in Feuer auf. Ganz ähnlich wünschte ich mir zuweilen die Reihe der französischen Könige bis heute fortgesetzt; wir lebten dann in einem sehr subtilen Rokoko und hätten statt der Technik eine ausgeformte Chinoiserie. Doch der Weltgeist duldet die Filigranarbeit nur dort, wo er ein wenig zaudert - wie wir überhaupt die feinsten Dinge Augenblicken danken, in denen er vergesslich war.

Die guten Lehren, die Erasmus an Luther richtet, sind derart, dass der Täter sie verachten muss. Wenn man jedoch in den Papieren lebt, hat man auch Fuchsgeist nötig, um in solchen Läuften zu bestehn. Das tritt in der Zeichnung von Dürer gut hervor, doch treffender noch in der Medaille von Metsys, auf der man sieht, wie dieser Fuchsgeist sich mit Stärke paart. Ganz unverkennbar sind die Züge hoher Geistesmacht. In diesem Lichte war Europa kleiner, und seine Kapitalen lagen einander näher als heute, wo man es in einer Stunde überfliegt.

(Bild: Erasmus von Rotterdam gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren, 1523)

Thursday, October 23, 2008

Kirchhorst, 18. April 1939


Im Garten Wege vertieft. Die Würmer, die der Spaten beim Schürfen in Stücke schneidet, die sich tänzelnd krümmen - der Schmerz rührt uns in solchen Bildern kurz, wie mit dem Ätzstift, an. Es leuchtet ein, dass man im Wurme den Schmerz symbolisiert und dass der Mensch, sofern er schutzlos leidet, mit ihm verglichen wird. Einmal ist da die Lage, ganz am Boden, in der das Niedere sich verkörpert, ohne wie bei der Schlange sich des schnellen Laufes, der Schuppen und der Waffe zu erfreuen. Sodann die nackte, unbehaarte, gänzlich ungeschützte Haut, die Blindheit und vor allem die Krümmung, durch die der ganze Körper zum Spiegel der Empfindung wird.

Immer, wenn man den Wurm sich krümmen sieht, mischt sich auch Wiederwille in das Mitgefühl, ganz ähnlich wie beim Schwein, mit dem er in der Art des Schmerzes Verwandschaft hat. Ich nehme an, dass sich auf diese Weise die sorgenlose Existenz quittiert - so lebt der Wurm in fetter Erde wie im Schlaraffenlande, und das Schwein hat sich zum feisten Fresser entwürdigen lassen, zu welcher Wendung, wenn nicht Zustimmung, so doch Eignung vorauszusetzten ist. Demgegenüber gibt es Tiere, die man sehr vornehm leiden sieht.

Bei anderen Würmern, die vom Raube leben, wie bei den Errantien und insbesondere bei den Sagitten, gibt es Arten von hoher Schönheit, wie ich sie oft am Meer bewunderte. Hier sieht man, wie die Lebensweise, und nicht die Blutsverwandtschaft, nobilitiert. Der Stamm der Würmer ist geheimnissvoll und müsste von Augen gedeutet werden, die Bilderschrift zu lesen wissen - so ruht dort vieles, was an uns geschlechtlich ist.

Zum Niederen des Schmerzes noch folgendes: Ob nicht auch unter Menschen die rohen Qualen ganz bestimmten zugemessen sind? Etwa derart, dass sich die Greueltaten leicht auf Typen richten, die zum groben und körperlichen Stoff des Lebens in besonderer Beziehung stehn? Ganz ähnlich wie es Weiber gibt, die offen zu Wollust reizen, besteht ein Habitus, der den rüden Täter zur Gewalttat provoziert. Die Art von Angst und Schmerz wird man oft bei Personen finden, die ganz vom Trachten auf ein feistes, üppiges Behagen besessen sind. Zum Beispiel sind jene sehr gefährdet, die man im Volke Blutsauger nennt, und die Freudenmädchen ziehen die Schlächter an. Immer lockt auch die nackte Furcht das Schreckliche herbei. So reizt, wer flieht, schon zur Verfolgung an; und so belauert ein Mensch, der Böses plant, sein Opfer - die letzte Schranke wird fallen, wenn er zeichen der Angst an ihm erkennt. Daher ist es sehr wichtig, dass man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Walde angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen, und deren Bann auch von den Tieren empfunden wird. Man muss nur wissen, wie Marius, dass man unverletzlich ist.

Kirchhorst, 16. April 1939




"Schlangenkönigin". Ich gedenke, dem Capriccio einen neuen Titel, und zwar "Auf den Marmorklippen", zu verleihen. Darin drückt sich die Einheit von Schönheit, Hoheit und Gefahr, wie ich meine, vielleicht noch besser aus.

Bei dieser Arbeit aus dem Fenster blickend, sah ich auf der Strasse Geschütze auf Geschütze nach Osten eilen, fast wie im Kriege vor einer grossen Schlacht. In diesen Wochen rückten die Deutschen in Böhmen, Mähren, Memel und die Italiener in Albanien ein. Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit; ich tue daher gut, damit zu rechnen, dass ich die Arbeit niederlegen muss. Dies an einem Punkte, an dem ich fühle, dass es ein wenig lichter wird, und an dem der Wert der Zeit für mich sehr stark gewachsen ist. Auf alle Fälle hat dann die Feder ganz zu ruhen, bis auf das Tagebuch. Die Arbeit muss den Augen übertragen werden, denn an Schauspiel wird kein Mangel sein.

(Video: Schienengeschütz "Dora". Die grösste Kanone der Welt, Krupp, 1937–1941)

Kirchhorst, 14. April 1939


Zum ersten Male in der neuen Wohnung am Mikroskop. Als ich im Garten einen grossen, von starken Löchern durchsiebten Buchenast zerhieb, blieb auf dem Klotz ein schwarzes metallgrün angehauchtes und lang behaartes Tierchen liegen: Xestobium plumbeum. In der Sammlung fand ich nur seine Spielart mit rotbraunen Flügeldecken, die mir im Harliwald von Kräutern, die unter alten Buchen wuchsen, im Streifnetz blieb. Der Fang der Tiere, die im Holze leben, bildet eine Kunst für sich.

Kirchhorst, 13. April 1939


Fahrt nach Burgdorf, einem der alten Niedersachsennester, die wie durch lange Räucherungen ausgetrocknet sind. Beim Gärtner Fliegende Herzen, die ich sehr liebe, eingekauft. Um mir klarzumachen, dass sie fest anzugiesen seien, sagte er, sie müssen "geschwemmt" werden. Die Handwerker hört man fast immer besser sprechen als die Gebildeten, die allzu leicht mit Worten wie mit Rechenpfennigen umgehen. So erhielt ich neulich von einem Unbekannten ein Gedicht, in dem die "Töne der Taucherglocke in der Tiefe" gepriesen werden - ein gutes Beispiel für ein Bild, das aus der Leere des Begriffs geboren ist.

Am Weg eine junge Hagedisse mit rotem Haar. Es gibt von ihnen eine helle und eine dunkle Rasse - auffallend, wie in beiden der Feuergeist lebendig ist. Man könnte meinen, dass ein innerer Zug, vielleicht von horoskopischer Natur, sie auch von sich aus dem Scheiterhaufen näherte. Auch die Viehbehexung hat sich modernisiert; so las ich neulich, dass man eine Alte verurteilt hat, die Stroh, das sie mit Klauenseuchevirus bestrichen hatte, in fremde Ställe warf.

Wednesday, October 22, 2008

Kirchhorst, 12. April 1939


Traum. Ich hörte im Chronikstil erzählen oder hatte das Gefühl, dass vor mir das Titelblatt einer alten Chronik aufgeschlagen würde: "Schwedentrunk". Die Frau trägt den schwer Geschädigten aus der Menge, die um den Vorgang versammelt ist, auf dem Rücken hinweg. Leider ergibt sich noch ein geringfügiger Wortwechsel mit einem Trabanten, und der Trunk wird, diesmal tödlich, wiederholt. Die kalte Mechanik der Gewalt, in die der Mensch wie in ein Maschienenwerk gerät, davonkommt, wieder ergriffen wird und untergeht. Die Szene spielte auf einem Marktplatz; alle Häuser, Gewänder und auch Gesichter genau im Zeitstil, nur der Trunk wurde aus einem modernen Hydranten erteilt, wie sie mit kupfernem Mundstück in unseren Strassen stehn.

Bedeutend auch das Erwachen. Ich kam aus der Tiefe des Schlafes wie durch einen Strudel herauf und hörte, lange bevor ich auftauchte, an der Oberfläche das Heulen eines Autos, das draussen auf der grossen Strasse vorüberfuhr. Diesen Ton erkannte und ordnete ich bereits in der Tiefe ein, wenngleich von ausserhalb, wie jemand, der in anderen Welten lebt, doch ohne dieser fremd zu sein. Im Augenblick, in dem ich oben ankam, schnappte das Bewusstsein gleich einer Feder ein, und die Kausalität war wiederhergestellt.

Kirchhorst, 11. April 1939


Lauch, Spinat, Mairettich gesät. Auch sah ich die Erbsen keimen - zu meiner Erleichterung, denn es ist fast eine fixe Idee von mir, dass nichts aufgehen wird. Zu meiner Entlastung muss ich sagen, dass alles was wir heute treiben, solchem Zuwachs wiederspricht, der über Nacht und ohne unser Zutun vor sich geht. Uns fehlt vor allem eine Tugend, die man die Kunst des Sich-beschenken-Lassens nennen kann. Hierein muss man kindlich bleiben, dann kommt das Glück von selbst. Ich glaube sogar beobachtet zu haben, dass das Geld - ich meine nicht das abstrakte, sondern das konkrete Geld, etwa der Erbschaften, Geschenke und Gewinne - sich ganz bestimmten Empfängern zuwendet. Das ist nicht so seltsam, wie es scheint, denn jeder Schenkende wird den bevorzugen, der auch Geschenke zu empfangen weiss. Daher teilen wir doch alle den Kindern aus.

Dieses Verhältnis spielt in die Aufteilung des Erbes ein und bildet den verborgenen Grund der Streitigkeiten, die daraus entstehn. Die Eltern möchten gern, dass ihre Kinder tüchtig werden, und dennoch gilt ihre Liebe immer denen, die am meisten Kinder sind. Daher sind sie auch leicht geneigt, den Jüngsten besser zu versorgen, und legen so den Keim zum Bruderzwist, Auf diese Weise wird der Tüchtige, wie einst Kain, gekränkt.

Tuesday, October 21, 2008

Kirchhorst, 10. April 1939


"Schlangenkönigin". Bei der Schilderung der Marmorklippen Vorsicht, damit kein Prachtgemälde, etwa im Stil der Isola Bella im "Titan", entsteht. Der Autor sucht den Eindruck des Schönen zu vermitteln, indem er den Leser mit Worten trunken macht. Die höchste Wirkung des Schönen liegt indessen nicht in der Verzückung; es fesselt uns durch Zauberbann. So kann es tiefere Lust in uns erwecken als den Rausch, der letzten Endes ins Leere drängt und den Gestalten nicht standzuhalten vermag. Im Zauberbann dagegen, der uns die Augen weitet, statt sie zu schliessen, gewinnen wir den tiefsten Eindruck, der dem Bewusstsein möglich ist. Im Angesicht der Schönheit soll die Beobachtung sich steigern; es gibt einen Zustand, in dem die Zeit langsamer zu laufen beginnt und die Farben stärker leuchten, wie im luftleeren Raum. Die Schilderung des Schönen setzt Mass, Entfernung und scharfen Blick voraus; mit blossem Stammeln ist nichts getan. Daher gehören Worte wie "unbeschreiblich" nicht in die Schilderung. Desgleichen ist das Schwelgen in Steigerungen ein Zeichen der Impotenz. Natürlich gibt es immer Grade, in denen die Form der Fülle oder auch der Glut nicht standzuhalten vermag und zerspringt. Dort handelt es sich um Regionen, die ausserhalb des Wortes gelegen sind; es ändern sich dann auch die Mittel ab. So stossen die reinen Melodien noch weiter vor und tragen noch leichteres Gewicht.

Ich finde, dass in dem berühmten Bild vom "Liebeszauber" das Wesen des Zauberbannes gut getroffen ist - besonders, weil es auch den Eindruck des Erschreckens vermittelt, der uns vor der Enthüllung überfällt.

Modelle zu den Marmorklippen: der Felshang beim Leuchtturm von Mondello, an dem ich mit dem Magister kletterte. Sodann der Gang von Korfu nach Kanoni, das Rodinotal auf Rhodos, der Blick vom Kloster Suttomonte hinüber nach Korcula, der Feldweg von der Gletschermühle nach Sipplingen am Bodensee. Die Falken- und Eulennester in den steilen Wänden des Durchstichs von Korinth. Die Akropolis; die Art, in der in Rio die Felsen aus dem Boden schiessen, so dass man an Orchideen und Schlangen denkt. Der Autor ist verpflichtet, viel zu reisen, um zu erfahren, was die Erde zu bieten hat. Dann aber müssen die Bilder sich mischen und verflüssigen wie Honig, der aus vielen Blüten eingetragen ist. Nur aus den Elementen der Erinnerung fliesst dem Geist die Nahrung zu.

Nachmittags bei guter Sonne im Moor und dort im Wassermoos nach kleinen Hydrophiliusarten gejagt. Bei dieser Arbeit glitt eine grosse Wasserspinne aus den Binsen auf den dunklen Spiegel des Torfstichs vor, an dem ich kauerte - tief sammetbraun mit filzig weiss gesäumten Leib. In diesen Frühlingstagen flimmern die Birkenreiser und die Stengel des Heidekrauts rundum im harten Licht, so dass der Eindruck des Frischgewaschenseins entsteht. Das Ungewöhnliche beruht wohl auf dem Gegensatz der noch winterlichen Vegetation zum schon fast sommerlichen Licht.

Monday, October 20, 2008

Kirchhorst, 9. April 1939


In den Feldern, auf deren Fläche hin und wieder ein dunkles Wäldchen steht. An den Wegen sind die Birken noch unbelaubt. Längs der Gräben blühende Kätzchen, von Bienen und gelben Fliegen bestäubt. Grosse Klumpen von Froschlaich, die in die Wasserkräuter wie Sagopudding eingebettet sind, mit schon stark entwickeltem schwarzem Kern. Überall auch, aus der Tiefe läutend, der gläserne Unkenruf. Der Frühling hat auch eine amphibische Seite, einen kühlen und zärtlichen Zauber, mit Liebesspielen im tauenden Eis.

Gerade bei den Fröschen, etwa wenn sie im Wasser auf den gestreckten Hinterbeinen zu stehen scheinen, berührte mich von je das Menschennähnliche, das doch bei sehr viel höher ausgeformten Zweigen der Wirbeltiere wieder eingeschmolzen wird. Das mutet wie ein erster Vorstoss der Natur zum Menschenwesen an, der sich dann immer zwingender erneuert. Damit hängt es wohl auch zusammen, dass der Frosch, ganz ähnlich wie der Affe, von uns als komisch angesprochen wird. Auch bei der Begattung ergreifft das Männchen das Weibchen mit den Armen nach Menschenart.

Entsprechend weist der Mensch Amphibienzüge auf. Ich empfinde das besonders, wenn er bei stark zurückgeneigtem Kopfe die Kinn- und Kehlpartie den Blicken darbietet. So bleiben immer stellen, an denen die Natur die tierischen Gewänder für uns flüchtig zugeschnitten hat.

Ich entsinne mich, dass ich als Kind beim Anblick der Frösche grosse Lust empfand. Eines Mittags, aus der Vorschule kommend, sah ich grosse, grün und schwarz gescheckte Wasserfrösche hinter den Scheiben eines Aquariumgeschäftes ausgestellt. Dass man so herrliche Geschöpfe kaufen konnte, erstaunte mich, und ich ging hinein, etwas verlegen, doch zugleich mit straker Gier, solch einen Burschen zu erstehen. Leider kam dann der Grossvater und zog mich hinaus. Damals muss ich etwas von dem Gefühl gekostet haben, das darin lag, einen Sklaven zu bestizen - ich meine, von dem ganz alten, vorrömischen, ja voralexandrischen Genuss. "Deiser Mensch gehört mir, er ist mein Eigentum, mein vollkommener und sicherer Besitz; ich spiele so gern mit ihm." Ich möchte meinen, dass sich darin eine der tiefsten Beziehungen verbrigt, die möglich sind. Aber auch auf der anderen Seite: "Ich bin dein Sklave" - kann man sich das nicht in einem Tone gesprochen vorstellen, den noch keiner unserer Historiker getroffen hat? Dergelichen gehört zur Kindheit unseres Geschlechts, in unser dunkel-prächtiges Märchenland, wie Herodot es noch mit eigenen Augen sah. Das gibt seinen Büchern den unvergleichlichen Rang.

Indem ich diese Erinnerungen überlese, bemerke ich, dass mir oben im dritten Satz das "blühende Kätzchen" missfällt. Ohne Zweifel zu Recht, da sich ein Pleonasmus darin verbirgt, der zur Warnung belassen sei. Löblich dagegen die Art, in der er sichtbar wurde - durch ein ästherisches Missbehagen a priori, das sich sodann auch logisch zu rechtfertigen vermag.


Sunday, October 19, 2008

Kirchhorst, 8. April 1939

Weiter in der Bibliothek. Auch oben Handbücher aufgestellt. Im Garten gegraben, an einer Stelle, an der die Erde hell rotbraun fällt und wo sie im Stich wie Kupfer glänzt.

Attagenus, sonst mein erster Frühlingsbote, fand sich diesmal spät im Jahre ein und hielt in meinen Papieren Revision. Der kleine Bursche ist wie ein Reiskorn gross, trägt zierlich gekeulte Fühlerchen und zwei kreideweisse Makeln im schwarzen Rückenschild. Auch sonst sind hin und wieder weisse Spritzer in sein dunkles Röckchen eingesprengt. Er gedeiht in Fensterritzen und dielenfurchen, und die Zimmerwärme bringt ihn, wie im Treibhaus, zeitiger hervor. Es ist doch immer ein Wiedersehen, wenn das Tierchen in den Lichtkreis der Lampe fliegt und dann ein Manuskriptblatt wie ein Ackerfeld durchquert. Auch kommt mir, wenn ich es betrachte, das Zimmer belebter und grösser vor.

Saturday, October 18, 2008

Kirchhorst, 7. April 1939

Bei der Arbeit fiel mir auf, dass ich im Aussparen des unbetonten E vielleicht zu peinlich bin. Es ist allerdings ein Unterschied für den Satz, ob es in ihm heisst "erfreuen" oder "erfreun". Indessen glaube ich, dass der Leser, wie ich es auch an mir beobachte, das unbetonte E der Endungen je nach Bedarf liest oder unterschlägt. An jeder guten Prosa wirkt der Leser von sich aus mit. Insbesondere scheint mir dort Vorsicht geboten, wo die Aussparung dieses Vokals dem Wort einen ungewöhnlichen oder das Gedicht streifenden Charakter verleiht. Dasselbe gilt für die Umstellung von Wörtern innerhalb des Satzes aus Gründen der Gewichtsverteilung - auch hier steht dem Gedicht eine grössere Freiheit als der Prosa zu. Was in der Prosa an rhytmischer Arbeit geleistet wird, darf keine Spur hinterlassen; und die Anstrengung ist um so lohnender, je weniger sie wahrgenommen wird. Das entspricht einem allgemeinen Gestetz, nach dem die ordnende Hand als letztes die sichtbaren Merkmale iherer Arbeit verwischt.

Ferner glaube ich, dass ich den allzu häufigen Gebrauch des Wörtchens jenes vermeiden muss. "Seine Augen glänzten in jenem Schimmer, den der Gebrauch der Belladonna verleiht." Die eigenartige Wirkung dieses Pronomens liegt darin, dass es das Einverständnis oder die Kennerschaft des Lesers in Anspuch nimmt. Das kann gerade bei einer ungewöhnlichen Feststellung oder einem raren Fakt von starker Wirkung sein. Es gilt hier aber, wie bei jeder Schmeichelei, der Grundsatzt der Sparsamkeit.

Am Vormittag in der kleinen Kirche, deren Friedhof an meinen Garten grenzt. Sie ist sehr schön. Karfreitagspredigt über Christus und die beiden Schächer am Kreuz. Der sakrale Ton liegt auf der Predigt wie eine dünne, abgeblätterte Folie. Bei den Protestanten ist das noch hörbarer als im Südern, wo man ja auch "allein auf den Glauben" nicht angewiesen ist. In Norwegen hatte ich den Eindruck von Darbietungen, bei denen man sich an imaginären Seilen in die Höhe zog.

Nachmittags Besuch beim neuen Nachbarn; Kaffee und Kuchen, Rundgang durch Hof und Haus. Dann mit Perpetua und Louise die Bibliothek geordnet; leider hat der Umzug den Büchern übel mitgespielt. Über alle Jahrhunderte hinweg halten sich doch nur die guten alten Einbände von Pergament.

Friday, October 17, 2008

Kirchhorst, 5. April 1939

"Schlangenkönigin". Was ich heute über die Mauretanier aufzeichnete, befriedigt nicht; dieser Orden lebt in meiner Vorstellung deutlicher als in der Niederschrift. Es ist zu schildern, wie im Niedergange, wo sich viel dumpfe Materie häuft, der Rationalismus das entscheidenste Prinzip vertritt. Sodann: wenn sich um eine Doktrin von amoralischer Technizität Zirkel bilden, werden sich ihnen dank ihrer Bösartigkeit autochtone Kräfte zugesellen, um mit neuem Vorspann die alte Macht wieder zu verwirklichen, nach der die Sehnsucht ja immer auf dem Grunde ihrer Herzen lebt. Auf diese Weise leuchtet in Russland das alte Zarenreich hindurch. So auch der Oberförster; in solchen Figuren findet der Nihilismus seinen Herrn. Übrigens erscheint im Verhältnis von Pjotr Stepanowitsch zu Stawrogin die Lage umgekehrt: der Techniker versucht, sich mit dem Autochtonen zu verbünden, im Gefühl seines Mangels an legitimer Kraft.

Obwohl man sich bei der Schilderung solcher Pläne am besten ganz auf die produktive Phantasie verlässt, kann es nichts schaden, wenn man sie durchkonstruiert. Zu vermeiden ist jedoch, dass die Erzählung rein allegorischen Charakter gewinnt. Sie muss, ganz ohne zeitliche Beziehung, aus Eigenem leben können, und es ist sogar gut, wenn dunkle Stellen bleiben, die sich der Autor selbst nicht zu erklären vermag. Gerade solche sind, wie ich erfuhr, oft Keime späterer Fruchtbarkeit. So war mir der Charakter des Oberförsters, als ich in einer stürmischen Harznacht von ihm träumte, noch dunkel; dennoch sehe ich heute, dass die Züge, die ich damals notierte, im erweiterten Rahmen sinnvoll sind.

Nachmittags im Moor. Ganz nah, aus einem schmalen Graben, flatterte ein Entenpäärchen auf und schlug einen Kreis um mich. Der Erpel im Hochtzeitsstaat, mit der Locke im Bürzel, die ihm etwas vom verwegenen Burschen gibt, und dem seidig metallgrün schillernden Hals. Sehr schön die Stellen, an denen diese Farbe in ein üppiges und ganz weiches Schwarz hinüberspielt; dieses Schwarz ist ein Grün höchster Potenz. Ich stelle es mir als ein Tintenpulver vor, das in der Lösung grosse Mengen einer herrlich grünen Tinktur ergibt.

Dann im Garten. Erbsen, Salat, Mangold, Zwiebeln, Möhren gesät. Wie die Erbsen in matt graugrünen Reihen aus den dunklen Rillen schimmerten. Als ich bei diesem Anblick dachte, dass ich sie gleich mit Erde bedecken würde, leuchtete mir ein, wie seltsam, ja fast zauberisch die Arbeit an den Beeten ist.

Wenn man im Boden wühlt, teilt die Erde den Händen eine Veränderung mit; sie macht sie trockener, ausgezehrter und, wie ich meine, geistiger. Die Hand erfährt im Boden eine Reinigung. Die Finger im mürben, lockeren Grunde zu bewegen, den die Sonne und auch die Gärung wärmten - das ist ein sehr angenehmes Gefühl.

Unter der Post ein Brief von Elisabeth Brock aus Zürich, die mir schreibt, dass sie zu dem Thema "Description exacte d'un objet" von einer ihrer Schülerinnen die Schilderung eines gesottenen Hummers bekommen habe, über die ich entzückt sein würde. Ich muss freilich zugeben, dass schon der Gedanke mir gelungen erscheint; es handelt sich um ein Prunk- und Paradestück.

Kirchhorst, 4. April 1939

Schlecht gearbeitet, was schon an der Art, in der ich geträumt und geschlafen hatte, vorauszusehen war. Obwohl nicht jeden Tag Fangtag, so ist doch ein jeder Jagdtag für mich - das heisst, ich bringe den Vormittag hin, indem ich Sätze bilde und verwerfe, wie ein Töpfer, der sein Geschirr zerschlägt. Ich nehme diesen Zustand sehr bald wahr und könnte eigentlich spazierengehen. Da ich trotzdem bleibe, möchte ich annehmen, dass auch diese Anstrengung eine Bedeutung verbrigt. Man tut wenig umsonst.

Am Nachmittag Beete gegraben, Radieschen und Kerbel gesät. Gelesen: Thornton Wilder, "Die Brücke von San Luis Rey". Der Autor führt an einer Stelle die Kennzeichen des echten Abenteuers an - darunter die Gabe, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Das dürfte in der Tat ein Merkmal ersten Ranges sein. Wenn wir unsere Bekannten mustern, werden wir nur wenige finden, deren Bekanntschaft uns nicht durch einen Dritten vermittelt worden ist. Menschen, mit denen wir direkt in Beziehung gerieten, begegneten wir meist schon unter ungewöhnlichen Umständen - auf Reisen, während eines Festes oder bei einem Unglücksfall. Auch im erotischen Bereich regiert die direkte Art, etwa bei der Ansprache oder bei der Aufforderung zum Tanz. Es ist ein abenteuerlicher Zug, wenn ein Mann in einem dunklen Raume, etwa im Theater, nach einer unbekannten Frau die Hand ausstreckt. Übrigens geschieht dies öfter als, als man gemeinhin denkt. So war Edmond ein Kenner dieser Art, über deren Taktik er mir einmal einen langen Vortrag hielt. Dabei fällt mir ein, dass ich auch mit ihm unmittelbar bekannt wurde; er sprach mich in der Untergrundbahn an. In alle menschlichen Kreise treten wir fast nur durch Einführung, wie es geselligen Wesen entspricht. Der Abenteurer, der ungesellig ist, hilft sich durch eigenes Talent. Auch die Autorschaft lässt sich als geistiges Abenteuer betrachten, womit es zusammenhängt, dass jeder Autor über eine Zahl von Bekannten verfügt, die er durch direkte Ansprache gewann.

Es scheint, dass die unmittelbare Bekanntschaft als eine höhere Art der Anknüpfung betrachtet wird. So empfinden Liebesleute den Zufall, der sie zusammenführte, als ausserordentlich. Auch im Romanen wird ein Ereignis, das zwei Freunde zueinaderführt, gern als Einleitung verwandt.

Thursday, October 16, 2008

Kirchhorst, 3. April 1939

Im neuen Haus zum ersten Mal gearbeitet. "Die Schlangenkönigin" - vielleicht fällt mir ein besserer Titel ein, damit man uns nicht für Ophiten hält. Es will mir scheinen, dass ich die Niederschrift, wenn ich sie mir im Geiste vorlese, nicht ganz in ihrer Wirkung aufnehme. Ich schliesse das etwa daraus, dass ein kurzer Satz mir unvollendet scheint, während ich doch weiss, dass herade die knappe Phrase oft einen starken Eindruck erweckt. Der Satz, wie ihn der Autor schreibt, unterscheidet sich vom Satze, wie ihn der Leser liest. Wenn ich an Aufzeichnungen oder Birefe gerate, von denen ich nicht mehr weiss, dass meine Feder sie schrieb, kommt mir die Prosa besser, kräftiger vor.

Nachmittags im Garten. Seine Erde gräbt sich leicht: ein Heidesand, der dunkle Humusflötze führt. Da ich noch an den zähen Boden des Überlinger Weinberges gewohnt bin, machte es mir Spass, zu fühlen, wie flüssig sie von der Schaufel fiel.