Wednesday, August 26, 2009

Laon, 8. Juni 1940


Abends noch Bernanos gelesen - im ersten Buch, das dieser Autor seit seinem Auszug nach Südamerika veröffentlichte. Ich fand es hier im Haus und dachte vor dem Einschlafen noch über die Lage dieses Geistes nach, die ja auch gleichnishafte Züge trägt. Bevor ich nach Paris fuhr, hatte Steiner mich lebhaft aufgefordert, ihn zu besuchen; und vielleicht war es nur seine Berühmtheit, die mich davon abhielt, denn von jeder Bekanntschaft, die man erstreben kann, hat die mit berühmten Leuten stets am wenigsten gelockt. Es scheint, dass in dem Grade, in dem wir uns einen Namen machen, wir auch an Qualität verlieren - und zwar an jener, die man als die des Nachbarn bezeichnen kann. Im gleichen Mass, in dem die Menschen für die Menge bedeutend werden, büssen sie ihren Wert als Nächste ein. Vor allem sieht man das an den Frauen: um wieviel spendender ist doch die nächste beste als jene Sterne, die man auf allen Titelblättern sieht.

Mitten in der Nacht erwachte ich durch Bombenwurf, der in nicht allzu weitem Umkreis niederging. Ich wollte in den Keller steigen, fand aber meine Stiefel nicht. So liess ichs denn und schlief bald wieder ein.

Am Vormittag machte ich mit Spinelli einen Streifzug durch die heissen Gärten am Berghange. Rosen, weisse Pfingstrosen, Jasmin. In verschiedenen Häusern, die zum Teil Treffer bekommen hatten. In einem von ihnen war durch die Wand des Speisezimmers ein seidener Bajazzo zu erblicken; er thronte lässig auf dem Büffet, das über einem Abgrund hing. Aus einem Wäscheschrank nahm ich ein Handtuch, an dem es mir mangelte. Was das Beitreiben anbetrifft, so gibt es darin ganz bestimmte Grenzen, die ich den Männern deutlich zu machen suche. So darf der Soldat einen Löffel an sich nehmen, wenn ihm der eigene verloren ging - unter Umständen auch einen silberenen, wenn er gerade darauf stösst, doch keinesfalls dann, wenn ein Blechlöffel daneben liegt. Wir erreichten die Mauer der Zitadelle an einer Stelle, an der sie die Jahreszahlen 1598 und 1498 eingemeisselt trug.

Zum Essen hatte Rehm die ersten Kartoffeln und die ersten Kirschen aus den Gärten eingeheimst. Zuvor schon hatte ich meiner alten Passion, grüne Erbsen vom Busch zu pflücken, gefrönt. Mir scheint, das man in ihnen einen Auszug der feinsten Kräfte der Natur verspeist.

(Bild: Georges Bernanos, französischer Schriftsteller, 1888-1948)

Sunday, August 9, 2009

Laon, 7. Juni 1940


Über Nacht noch in Toulis, wohl wegen des Wiederstandes, den der Angriff vor unserem Abschnitt gefunden hat. Der Franzose verteidigt sich auf den Höhen am Aisne-Oise-Kanal, und innerhalb der Nachmittagsstunden des gestrigen Tages gelang es der 25. Division, in die Waldstücke südlich Sancy vorzustossen. Unsere 96. Division bleibt vorerst in ihrem Raume, kann aber stündlich antreten.

Gegen Mittag Abmarsch nach Laon, das weithin von seinem Berge sichtbar ist. Die Stadt, in der ich schon 1917 weilte, lebt mir als vorgeschobene romanische Kernzitadelle in der Erinnerung, und ich glaube nicht, dass mein Gefühl mich trügt. Man spürt die Witterung, die um uralte Heiligtümer webt.

Am Wege wieder tote Pferde, davon zwei auf dem Grundwasser eines riesigen Granatentrichters treibend, auch zerschossene Tanks. Starke Zertrümmerungen an den Ortseingängen und in den Vorstädten: Barrikadenlandschaften.

Glühende Hitze, auch in der Stadt. Ich liess die Gewehre zusammensetzen und sandte Quartiermacher in das uns zugeteilte Viertel aus. Während ich in dieser Pause mit Spinelli in bequemen Rasierstühlen sass, die wir aus dem Laden eines Coiffeurs auf die Strasse geholt hatten, fuhr der General vorbei und rief mir zu, dass Soissons heute erobert, der Aisnekanal an drei Stellen überschritten sei.

Quartiere am Stadtrand; ich zog mit den beiden Offizieren in eine Villa mit grossem Garten und geräumiger Terrasse ein. Da die Keller zum Teil noch trächtig sind, entsandte ich ein Fahrzeug, das bald mit Rotwein in Flaschen und Fässern wiederkam. Zu solchen Geschäften muss man findige Köpfe wählen, die sich auch bald herausstellen. Die anderen kommen mit Essig, vinaigre, statt Wein und bringen Dosen voll Farben statt Konserven mit. Dann liess ich ein Rind schlachten, da das gelieferte Fleisch anrüchig war. Ich bezeichnete es unter einer grossen Herde, die in den Gärten weidete, von der Terrasse aus. Seit Olims Zeiten zählt zu den Zeichen des frischen Siegers der Überfluss an Fleisch.

Ein grosser Teil der Kompanie hat sich mit Rädern ausgerüstet, unter denen man auch Tandems, Damenräder und kleine Motorräder sieht. Dem Oberst ist das, ebenso wie die Verzierung der Farzeuge mit grotesken Symbolen, ein Greuel. Er stellte sich bei einem Brunnen geschickt auf Anstand und sperrte einen Mann, der neben der Kolonne im Tropenhelm marschierte, vom Fleck weg ein.

Diese Zeilen schreibe ich, nachdem wir uns im Badezimmer mit Wasser hatten übergiessen lassen, auf der Terrasse sitzend und Liköre wie Cointreau und Fine Champagne kostend, die wir in der Hausbar vorfanden. Aus der Entfernung eines kleinen Marsches, vom Chemin des Dames, tönt das Spiel der Artillerien zu uns herüber: in einer langsamen Häufung von Einschlägen, stürzenden Gebirgen gleich. Sie spinnen sich in fürchterlicher Unterhaltung fort. Wenn man sie hört, wie ich sie heute höre, dann weiss man, dass es zwischen Menschen, und wenn sie mit Engelszungen reden würden, eine Grenze des Wortes gibt. Dann erheben sich diese Stimmen aus Erz und Feuer, die auf die Furcht berechnet sind - und wirklich, die Herzen werden bis auf den Grund geprüft.

(Bild: Gefallener deutscher MG-Schütze, Westfront, 1. Weltkrieg)

Thursday, August 6, 2009

Toulis, 6. Juni 1940


Marschierten bis Toulis, wo wir um vier Uhr morgens ankamen. Quartier in einem grossen Gutshof, die Männer auf den Böden, die Pferde im Freien, die Wagen und Küchen auf dem Hof. Im Bett, aber auf den Satteltaschen geschlafen, in einem engen, überplünderten Zimmer, in dem ein grosses Damenbild, eine Photographie aus Flauberts Tagen hing - von noch sehr dichter erotischer Substanz. Vorm Einschlafen leuchtete ich aus dem Bett die enggeschnürte Schönheit mit der Taschenlampe an und beneidete unsere Grossväter. Sie pflückten die Erstlinge der Dekompostition.

Der Nachtmarsch führte oft an Kadavern vorbei. Zum ersten Male gingen wir gerade auf das Feuer los, das in noch weiter Entfernung zu hören war - mit schweren, brechenden Einschlägen. Rechts Gruppen von Scheinwerfern, dazwischen gelbe, lang in der Luft schwebende, wohl englische Leuchtkugeln.

Da wir jeden Augenblick ins Gefecht treten können, schoss ich am Nachmittag bei starker Sonne mit meinen Zugführern die Maschinenpistolen ein, vor derer Feuerkraft ich einen guten Eindruck gewann. Ich liess vor einem Strohschober eine lange Reihe von leeren Weinflaschen, an denen es hier ja nicht fehlt, aufstellen und sie dann beschiessen, wobei ein jeder kurze Feuerstoss eine von ihnen auseinanderspritzen liess. Die Übung war zum Unheil einer alten, fetten Ratte angesetzt, die plötzlich mit blutender Schnauze aus ihrem Strohversteck schoss und die Rehm mit einer Flasche erschlug.

Auf dem Rückweg Unterhaltung mit einem alten Franzosen, der bereits den dritten Krieg sah, indem er sich dessen von 1870 aus seinem frünften Jahr noch zu entsinnen vermag. Verheiratet, drei Töchter; auf meine Frage, ob sie schön seien, gleichmütig die Hand bewegend: "Comme ci, comme ça." Übrigens empfand ich bei der Begegnung die Würde, die ein langes und arbeitsam verbrachtes Leben dem Menschen gibt.

Sehr heiss. In der Kirche. In einem ihrer Seitenschiffe einer Gruppe uralter Frauen auf Stroh, mit zahnlosen Mündern aus runden Näpfen Suppe schlürfend, die ein junges Mädchen ihnen brachte, das nun betend auf einer der Bänke sitzt.

Dann auf dem Friedhof. Hier zwei Männer, die ein Grab schaufelten - für einen Greis, den dritten der Flüchtlinge, die in den beiden Tagen gestorben sind. Sie wühlten in altbebautem Totengrunde; der eine von ihnen hob einen Schödel ans Licht.

Bedeutsam für Kriege und Schicksalskatastrophen überhaupt; das Hin und Her, das einmal den Einsatz als ganz unmöglich un dann wieder als sicher erscheinen lässt. Derart verharren wir im Ungewissen, bis endlich doch das Feuer kommt. Dabei ists in der Rechnung der hohen Generalität bereit seit langem vorherbestimmt. Das ist ein Gleichnis der Lebenslage überhaupt. Wir kommen um den Ernstfall nicht herum.

Gedanken beim gestrigen Nachtritt - über die Machinerie des Todes, die Bomben der Sturzkampfflieger, die Flammenwerfer, die verschiedenen Sorten der Giftgase - kurzum das ganze gewaltige Vernichtungsarsenal, das drohend vor dem Menschen zur Entfaltung kommt. Alles das ist nur Theater, reine Szenerie, die mit den Zeiten wechselt und etwa unter Titus nicht geringer war. Auch bei den Primitiven ist man solcher Sorgen nicht enthoben; man kann dort auf Stämme stossen, durch die man auf ausgesuchte Weise gefoltert wird. Die Schrecken der Vernichtung stellen sich, wie auf den alten Höllenbildern, stets in der höchsten Fülle technischer Einzelheiten dar.

Ewig dieselbe bleibt dagegen die absolute Entfernung, die uns vom Tode trennt. Ein Schritt genügt, sie zu durchmessen; und sind wir entschlossen, ihn zu wagen, dann gehört alles andere der Vorstellung oder der Versuchung an. Die Bilder, die uns auf diesem Weg begegnen, sind Spiegelbilder unserer Schwäche - sie wechseln mit den Zeiten, in denen wir geboren sind.

(Bild: In Fismes getötete deutsche Flammenwerfer-Bestazung)

Wednesday, July 29, 2009

Gercy, 5. Juni 1940

Am Morgen wieder Ritt durch die schönen Felder, zur Besprechung der neuen Erfahrungen im Angriffsgefecht. Man kann jetzt vorgehen, wie es 1918 unser Traumbild war. Die Pikardie mit ihren sanften Hängen, den Dörfern, die in Obstgärten eingebettet sind, den Triften, an deren Rändern die hohen Pappeln stehen - wie oft hat diese Landschaft mich schon entzückt. Hier spürt man elementarisch, dass man in Frankreich ist; aus diesem Grunde können Tal und Hügel dem Vaterlande nie verlorengehen.

Ich unterhalte mich täglich, schon zur Übung, ausgedehnt mit unserer Wirtin, wobei es immer zu lernen gibt. So heissen die Bienen, les abeilles, leichthin gesprochen auch: les mouches.

Abends Essen beim Kommandeur. Beim Nachtisch erschien ein Melder vom Regiment mit dem Befehl, in einer Stunde marschbereit zu sein. Der neue Angriff soll heut morgen begonnen haben; wir hörten hier nichts davon. Ich schreibe diese Zeilen, während Rehm beim Packen ist.

Gercy, 4. Juni 1940


Ritt durch die Felder und Wiesen, auf denen das ungemähte Kraut in vollem Saft stand - durch Schläge von goldgelben Kompositen, von Margeriten, die mit ihren Sternen den Bauch der Pferde streiften, und durch hellen, grellroten Klee, wie ich ihn sonst nur auf sizilischen Berghängen sah.

Nachmittags Besprechung beim Oberst Köchling; es scheint, dass unseres Bleibens hier nicht mehr lange ist. Abends wieder Gang durch die verlassenen Häuser; als ich ein Zimmer öffnete, stiess ich auf einen grossen schwarzen Hund, der mich mit glühenden Blicken anstarrte. Eilig trat ich in eine Nebenkammer und sah dort auf dem Sofa eine gelbe Dogge und auf dem Boden einen weissen Pinscher, der mich wütend ankläffte. Hier schien das Versammlungslokal der verwaisten Hunde zu sein.

Die Blumen in der Gärten - eine blassviolette Iris mit den gelben Staubbürsten auf dem Kelchblatt, die einen erotischen Eindruck hervorrufen. Der Genuss der Bienen und Hummeln, muss ausserordentlich sein. Vielleicht sind übrigens alle unsere Theorien über die staatenbildenden Tiere verkehrt und ist Genuss, was wir als Arbeit ansehen. Dann die letzten Fliegenden Herzen und Pfingstrosen, auch Phlox, der in der Dämmerung betäubend roch. Um diese Stunden wachen auch seine Farben auf, und Schwärmer umkreisen ihn. Der Phlox, die Flammenblume, ist einzeln unansehnlich, dagegen üppig in grösseren Beständen - das ist der Hegelsche Umschlag in die Qualität.

(Bild: Phlox, Flammenblume)

Gercy, 3. Juni 1940

Ein zweiter Ruhetag in Gercy, dem vielleicht noch weitere folgen werden. Nach den Operationen im Norden findet wohl eine neue Bereitstellung der Panzertruppen statt, zum Stoss auf Paris. Auch unsere Division wird ihn begleiten, doch halte ich es leider bei den neuen und unerwarteten Angriffsgeschwindikeiten für möglich, dass wir Bewaffnete kaum zu Gesicht bekommen werden, falls nicht der Vormarsch in der Marnegegend eine Stockung erfährt. Vor allem bedenklich scheint es mir für den Gegner, dass man kein Flugzeug mehr von ihm zu sehen bekommt.

Ich unterhalte mich viel mit der alten Dame, Madame Robeau, die mir erzählt, dass sie schlafen könne, seit wir im Hause sind.

Gercy, 2. Juni 1940


Gespräch mit der alten Dame, die siebzig Jahre zählt. Ihre Kinder und Kindeskinder sind geflüchtet, ohne dass sie weiss, wohin. Sie erzählte mir, dass bei unserer Annäherung eine Art von Panik ausgebrochen sei. Ihre Tochter hatte sich, während sich in der Nähe von Gercy ein kleines Gefecht entwickelte, mit den Kindern in ein Auto geworfen und war davongejagt, als schon Geschosse um den Wagen herumsausten. Die Alte kränkelte wie eine Pflanze, die man an den Wurzeln erschüttert hatte. Ich sprach ihr Trost zu und Befahl den Ordonnanzen, die sehr verständig sind, ihr jede Arbeit, auch die des Kochens, abzunehmen.

In der Kirche, die verlassen steht. Doch läutet der Aumônier, der zurückgebliben ist. In der Sakristei ein kleines Lager von Abendmahlswein. Indessen schien es, dass durstige Gemüter ihn der kanonischen Vorschrift: "Vinum sacramentale debet esse de gemine vitis et non corruptum" gerecht erfunden hatten, denn die Flaschen lagen geleert am Boden verstreut.

Abends beim Kommandeur. Ich durchblätterte bei ihm ein vielbändiges Werk, in dem die Gemälde des Louvre abgebildet sind, und dachte dabei an das Gespräch zwischen Nietzsche und Burckhardt vor siebzig Jahren über das Schicksal dieser Sammlungen.

(Bild: "La retraite de l'aumônier" von Jules-Alexis Muenier, 1886)

Tuesday, July 28, 2009

Gercy, 1. Juni 1940

Nachts starke Träume, als ob ein Stoff in den verlassenen Wohungen webte, in dem die Traumvegetation zu wuchern beginnt. Es war mir, also ob ich den Kern oder das Gerippe dieses Krieges einsähe.

Ein weiterer Ruhetag in Landifay. Vormittags Appell in Stiefeln, dann Spaziergang nach einem Vorwerke. Ein Puter, Hühner, Enten mit metallischem Gefieder und roten gehörnten Schnäbeln auf dem leeren Hof. In den Speichern Wolle, Hafer, Mais und Korn. Im Speisezimmer war ein grosses Festmahl auf weisse Linnen und mit vielen verschiedenen Gläsern aufgebaut. Die Überreste von Hühnern und Gänsen lagen noch auf den Schüsseln, schon anrüchig, und zwischen halbgeleerten Weinflaschen standen auch solche voll Olivenöl und tierärztlichen Medizinen, in denen die hastigen Zecher wohl Likör erhofft hatten.

Ich suchte zunächst die Hühnerställe nach Eiern ab und trieb dann Unfug, wie durch die Einsamkeit berauscht. So stieg ich auf einen hohen Wasserturm. In einem der Flure erblickte ich einen grossen roten Feuerlöscher, und da ich diese Dinger nie in Betrieb gesehen hatte, stiess ich ihn auf den Boden und entlockte ihm einen weissen, schäumenden Strahl. Plötzlich aber wurde mir bei dieser Beschäftigung widrig zumute, und ich ging in den Ort zurück. Dort liess ich die Quartiere reinigen, auch schlachteten wir einen Sier. Gerade, als alles in Ordnung war, kam Marschbefehl.

Im Nachtmarsch erreichten wir Gercy, wo wir nur noch einige wenige Einwohner antrafen. Wir wurden zu dritt bei einer alten Dame untergebracht, die uns empfing, als ob das Schlimmste von uns zu erwarten sei.

Landifay, 31. Mai 1940

Ruhetag in Ladifay. Während der Nach träumte ich, weiter im Marsch zu sein.

Am Nachmittag Gang durch die toten Gehöfte und die nähere Flur. Das Wetter war windig und schwül. Ich beobachtete, dass in der vollkommenen Einsamkeit, entfernt von der Truppe, sich bald ein Gefühl der Furcht einstellt. Las Briefe, besah Bilder in den verlassenen Wohnungen, gleich Dokumenten einer vergangenen Kultur.

Im Schlosse stiegen Flieger ab, um für einen Stab Quartier zu machen. Sie kommen von Boulogne, wie mir ein Major erzählte, mit dem ich mich unterhielt. Ich hörte von ihm Einzelheiten, die für einen alten Kenner der Materialschlacht erstaunlich sind. Die grossen Schranken von damals, wie die Somme, Verdun und Flandern, haben sich dem Gedächtnis so fest eingeprägt, dass man befestigte Stellungen allzu leicht für unbezwinglich hält. Inzwischen scheint bei dem ewigen Wettlauf von Feuer und Bewegung das Feuer wieder ins Hintertreffen geraten zu sein, und zwar derart, dass die schnellen Verbände oft weit vor der Infanterie operiert haben. So machte der Major einmal etwa zwei Tagesmärsche vor der eignenen Infanterie in einem Schloss Quartier und erfuhr dabei von den Schlossherrin, die wohl die deutschen Uniformen nicht kannte, dass die Zimmer schon vorbereitet seien - freilich, wie sich dan herausstellte, für einen englishen Stab, der sich für den gleichen Tag angesagt hatte. Das erinnert an den Siebenjährigen Krieg.

Landifay, 30. Mai 1940

Befehlsausgabe um Mitternacht. Bald darauf Wecken und Marsch über Ebouleau, Marle, le Hérie-la-Viéville. In Marle zogen wir an einem riesigen Weinlager vorbei, aus dem an die Truppen verteilt wurde. Ich liess zwei Flaschen Rotwein abzapfen und bekam eine Flasche Kognak dazu.

Tote Tiere: vor allem Pferde, stark aufgeschwollen, mit mächtig aufgetriebenen Geschlechtsteilen. Blaue, grüne und goldene Fliegen spielen auf ihrem straff gespannten Fell, auch Wespen nagen an ihrer Haut. Sie sterben vor Erschöpfung; man sieht sie, wenn andere Pferde vorüberziehen, sich mühsam auf die Vorderbeine stellen und den Hals erheben, wie zum letzen Appell. Ferner tote Hunde, überfahren oder an der Kette verhungert; Kühe, Hühner, Schafe, sehr viele Kaninchen und Katzen. Einige Male war mir auch, als ob aus dem Innerern verlassener Gebäude das Geschrei von eingeschlossenen Tieren herausdränge.

Quartier in Landifay, in einem leeren Haus.

Tuesday, July 21, 2009

Bucy-les-Pierreponts, 29. Mai 1940

Früh Abmarsch, nach kaum fünf Stunden Ruhe, die wie gewöhnlich noch durch Befehlsempfang, Essensausgabe und mancherlei Geschäfte auf die Hälfte verkürzt wurden. Dazu legten wir heute wieder eine tüchtige Strecke zurück, so dass wie eigentlich neuzig Kilometer mit längerer Pause geschafft haben.

Durch Porcien, Wadimont, Fraillicourt. Das ist die Gegend in der ich 1915 lag, mit ihren Häsern aus weissem Kreidestein, der an den Fenstern und Türen oft von weichen roten Ziegelsäumen sehr schön gerandet ist. Unter dem im Lauf der Jahre verwaschenen Bewurf der Mauern erschienen Wegweiser und Inschriften aus unserer damaligen Besatzungszeit. Ich hatte ein seltsames Gefühl dabei - als ob sie unter Röntgenstrahlen aufleuchteten.

Gleich im ersten Orte, Adon, frische Gräber am Dorfplatz, wo vorgestern eine Feldküche bei Licht Essen ausgab und dabei einem Flieger Gelegenheit zum Abwurf bot. Zweihundertdreissig Tote. Uniformfetzen lagen noch umher.

Der Marsch war anstrengend; die Leute hielten sich gut. Andere mögen im Gefechte dasselbe leisten - doch wie sie nach schwerem Marsch, unausgeruht, ohne ein Wort des Widerspruches, ja selbst der Enttäuschung, den Befehl zum neuen Aufbruch entgegennehmen, das ist ausserordentlich. Schweigend und sehr bescheiden marschieren sie bis an die Grenzen menschlicher Kraft.

Nachmittags in Bucy-les-Pierreponts, einem der typischen Kreidennester, an dessen einzigem erhaltenem Brunnen die Köche und Fahrer viele Stunden nach Wasser anstanden. Auf dem Dorfplatz zwei Kampfwagen, ein kleiner deutscher und ein schwerer französischer mit Namen "Athos", wohl durch einen Leser der "Drei Musketiere" getauft. Ich kroch hinein und musste, wie immer, feststellen, dass mit in diesen Dingern, in denen es nach Öl, Benzin und Gummi riecht, nicht wohl zumute ist.

Spaziergang in den Gärten, in denen sich Hühner, Kaninchen, Schweine tummelten. Auch Kadaver lagen auf den Beeten verstreut. Ich ass dort junge Erbsen und Wurzeln und zog auch Radieschen aus. Wieder fielen ein paar Pferde aus. Ich liess deshalb einen weiteren Wagen zurück.

Am Abend kamen über tausend gefangene Franzosen durch den Ort. Ich unterhielt mich mit einigen; sie erzählten, dass der Krieg für sie zehn Minuten gedauert habe, während derer sie, wie ein Elsässer sagte, von einem deutschen Panzerregiment "fertiggemacht" wurden.

Friday, July 17, 2009

Doumely, 28. Mai 1940


Nach dem Wecken Gang durch die Gärten, in denen die Kaninchen hoppelten, während die Hühner sich schon ein wenig mehr in die Feldmark gedrückt hatten. Man sah sie verschüchtert hinter den ersten Wiesenhecken stehen. Dann Kaffee, und Abmarsch gegen zehn Uhr. Da zwei Pferde lahmten, liess ich einen Gepäckwagen zurück, zum grössten erstaunen des Trossführers, der den Befehl ganz unbegreiflich fand.

Weiter über Villers-sur-Mont, Poix-Terron, Montigny-sur-Vence, während immer die gleichen Bilder uns begleiteten. Leere, wüste Häuser, tote Pferde und auf den Weiden einsames, brüllendes Vieh. Mittagsrast in La Lobbe. Wir stellten einen Tisch auf die Strasse und tranken eine Flasche Burgunder zu der Brühe, die aus den in Boulzicourt gefangenen Hühnern bereitet war.

Abends in Doumley, in einem schon recht anbrüchig gewordenen Haus. Schlief noch im Bett, aber ganz angekleidet und mit den Satteltaschen unterm Kopf.

(Bild: "Pferd auf Hinterbeinen", Leonadro Da Vinci, 1483)

Thursday, July 16, 2009

Boulzicourt, 27. Mai 1940

Um acht Uhr Abmarsch. Überall die Totenstille, die mir bereits in Belgien aufgefallen war. Die Landschaft ist geräumt, und nur Soldaten, die samt ihren Pferden und Wagen auf den Strassen vorwärts streben, sind in ihr zu sehen.

Noch in den Morgenstunden rückten wir in Sedan ein. Die Stadt war stark zertrümmert; grosse Häuser waren durch Bombentreffer niedergestampft, andere ihrer Fassaden beraubt, so dass man wie auf architektonische Querschnitten das Innere von Zimmern und prunkvollen Sälen sah, auch Wendeltreppen, die in der Luft schwebten. In einer Nebengasse, die wir durchquerten, schien es lustig zuzugehen. Man sah Soldaten die Köpfe durch die blanken Sparren der Dächer stecken, andere hingen halb aus den Fenstern heraus. Sie liessen an roten Gardinenschnüren Burgunderflaschen herunterbaumeln, von denen ich, wie ein Fisch, der mit dem Köder abgeht, eine im Vorbeischreiten ergriff: 1937er Châteauneuf-du-Pape.

Wir verliessen die Stadt auf der Strasse nach Donchery, an der ich Nachkommen der berühmten Pappeln, aber auch Ulmen sah. Im Staub zur Rechten lag eine herrliche Angorakatze mit schwarzem, sammetbraun durchstrahltem Pelz, doch wie ein Teppich breitgewalzt, und als ich, um den Anblick schärfer zu erfassen, mich vom Pferde beugte, stieg Aasdunst von ihr auf. In den Gärten glühende Päonien, dazwischen Kaninchen, die am Salat knabberten. Kurze Rast, zum guten Glück bei einem Speicher voll Stiefeln und Decken, aus dem ich unseren Fehlbestand ergänzen liess. Mein Küchenunteroffizier, der eine Zeitlang neben mir marschierte, erzählte mir, dass sein Grossvater 1870, sein Vater 1914 und er jetzt 1940 durch diesen Ort gezogen seien.

Nicht fern von den berühmten Häuschen stand der General am Wege, begrüsste die Kompanie und fragte, während ich im Vorüberreiten meldete, nach meinem Wohlergehen.
"Danke, gut, Herr General. Darf man den hoffen, dass man noch ins Feuer kommt?"
"Sie kommen, Sie kommen - bei Saint-Quentin."

Weiter durch diese erstaunliche Landschaften. In den Dörfern und Städten rauchte kein Herd, kreuzte kein Kind, kein lebendes Wesen unsere Bahn. Oft drückte ich mein Gesicht gegen Fensterscheiben und sah dann in den Zimmern gedeckte Tafeln mit Tellern und Gläsern, doch keine Gäste - das Bild jäh unterbrochener Mahlzeiten. In den Kirchen standen noch die silbernen und goldenen Geräte auf den Altären, und in den Palästen schien das Leben entschlafen wie in Dornröschens Schloss - tot, tot, tot. Sehr merkwürdig war, dass in den Orten lange Reihen von Stühlen den Bordstein säumten, vom einfachen Küchenschemel bis zum prunkvollen Sessel in Rot und Gold - aber alle leer, als sässen Geister darauf. Übrigens fragte ich den einzigen Einwohner, den ich antraf, nach den Vorgängen - er erzählte mir, dass Militär mit Lastwagen erschienen sei, zur Durchführung der Räumung binnen kürzester Frist. Der Maire sei betrunken gewesen und die Unordnung ausserordentlich. Das tröstete mich ein wenig, denn ich erkannte, dass die Bilder die mich bedrücken, in der Natur der Sache liegen und nicht auf uns allein zurückzuführen sind. Die Dinge sind so beschaffen, dass aus dem Haus, das aufgegeben wird, der Nomos schwindet; die Laren und Penaten bleiben nicht zurück. Auf alle Fälle lernt man aus solchem Anblick die mächtige, fast unsichtbare Arbeit würdigen, die durch die Familie geleistet wird.

Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, dass diese dunklen Träumereien mir Genuss bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, dass, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde - ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.

Während des Marsches unterhielt ich mich hin und wieder mit unserem Waffenunteroffizier, der treffende Beobachtungen macht und, als er Sinn dafür bei mir entdeckte, öfters mit dem Rad vorauseilte und wiederkam, gewissermassen um mir Bilder zu apportieren, die er im Fluge erfasst hatte. So meinte er, es sei seltsam, dass man alle Musikinstrumente bestimmt am ersten zertrümmert träfe - das ist ein Symbol für den unmusischen Charakter des Mars, und, wenn ich mich recht entsinne, schon auf dem grossen Bilde von Rubens vermerkt, das dem Thema "Mars und die Musen" gewidmet ist. Die Spiegel dagegen seien meist unbeschädigt - er erklärte das daraus, dass man sie zum Rasieren brauche; es hat aber wohl noch andere Ursachen. Zur Dämonologie gehört, dass sich trotz der Eile des Vormarsches immer Leute finden, die sich die Zeit nehmen, in den Fenstern der verödeten Häuser absurde Gegenstände zur Schau zu stellen - ausgestopfte Vögel, Zylinderhüte, Büsten Napoleon III., Probierpuppen und ähnliches.

Am Wege zerschmetterte Flugzeuge, von denen eines, hinter Sedan, auf ein Dach gefallen war, das es mit seinen Flügeln umklammert hielt. Im Aufschlag hatte es nicht nur das Haus verkohlt, sondern auch das Grün der Bäume, die es umringten, im weiten Umkreis fahl und dürr gebrannt. In einem Waldstück Tanks, daraus Leichengeruch.

Am Frühen Nachmittag in Boulzicourt, dort Quartier. Besprechung in einem Garten; ich fand die Gesichter der Offiziere ausgeprägter, die Physiognomien wie ausgeschmolzen, aus geläutertem Erz. Als ich auf dem Rückweg in der Dämmerung über den zertrümmerten Martplatz kam, geriet ich in eine Art von Maskenball. Leute mit Zylindern, Strohhüten, Mützen von Eisenbahnbeamten und Tropenhelmen fuhren Karussell auf Motorrädern und Autos ohne Reifen, die sie notdürftig in Gang gebracht hatten. Dazu die Häuser mit zerfetzten Fensterläden, die Türen mit Warnungen wie "Im Keller Leichen" oder "Achtung, Minen" - angeschrieben wahrscheinlich von solchen, die ihr Quartier gern für sich allein hätten. Ferner ein Schlachterladen, auf dessen Blöcken und Bänken noch das Fleisch in Massen lag; ein schrecklicher Dunst drang durch seine roten Gitter hervor.

Ins Quartier, über eine kleine Brücke, an toten Pferden vorbei. Andere Tiere liegen in den Gärten, so eine grosse Dogge mit gelbem, von der Sonne des heissen Tages aufgeblähtem Fell.

In meinem Zimmer trank ich noch die Flasche Châteauneuf-du-Pape und dachte dabei an Burckhardt, dessen Lieblingswein das war. Man kann sagen, dass seine Befürchtungen sich erfüllt haben. Dazwischen blätterte ich in Papieren, die der Besitzer allen Anschein nach zusammengerafft und in der Eile doch vergessen hatte, so in seinem Ehekontrakt.

Wednesday, July 15, 2009

Givonne, 26. Mai 1940


Um fünf Uhr Abmarsch über Bertrix und Fays-les-Veneurs. Wieder die starken Zerstörungen. Die Einwohner scheinen in grösster Eile aufgebrochen zu sein. Oft sieht ein Haus von aussen noch sehr gut und wohnlich aus, doch wenn man durch die Fenster blickt, entdeckt das Auge den Stempel der Verlassenheit und äussersten Unordnung. Die Kühe stehen mit überfüllten, geschwollenen Eutern auf den Wiesen, von denen ihr klagendes Brüllen herübertönt. Nur auf den Strassen ziehen die Truppen, sonst sieht die Landschaft in ihrer Ausgestorbenheit und Menschenleere gespenstisch aus. Bald nachdem wir angetreten waren, kam der General vorbei, und wir erfuhren, dass wir heute statt Buillon, wohin wir die Quartiermeister entsandt hatten, noch Givonne erreichen sollten. Das war der zweite derartige Eingriff in unseren Marsch.

Im Walde vor Fays-les-Veneurs begegneten wir einer Kolonne von über viertausend Gefangenen, fast nur Farbigen, die gleich einer Kostüm- und Völkerschau an uns vorbeizogen. Auch einige Europäer waren darunter, die meisten mit Weltkriegsorden und schon weissem Haar. Nach einem Platzregen hielten wir auf einer feuchten Wiese Mittagsrast.

Während des ganzen Nachmittags marschierten wir durch ausgedehnte Ardennenwälder bergauf, bergab. Über die französische Grenze – da ich in Abwesenheit des Kommandeurs gerade das Bataillon führte, sandte ich einen Melder zurück, um Spinelli das „Ran wecke!“ aufzutragen. Am Wege immer wieder ausgebrannte Autos, abgeschossenen Flugzeuge, Gräber, Hausgerät. Die Wagen der Flüchtlinge glichen Schiffen; man sieht das Strandgut, wo sie gescheitert sind. Auch tote Pferde – bei einem ganz von Fliegen bedeckten, an dem wir vorbeikamen, meinte ein Melder: „Der kocht schon von innen“ und traf damit sehr gut den Zustand, in dem es sich befand. Zwischen dieses Chaos hindurch ziehen sich bereits die starken Kabel, an denen hin und wieder kleine Schilder hängen, die jeden, der sie beschädigt, mit dem Tode bedrohen. Es sind die Nervenstränge der Armee. Bei einer der Rasten besah ich ein kleines Werk, das, wohl um Panzerwagen aufzuhalten, gut eingebaut an einem Knick der Strasse lag. Die zierlichen Geschütze lugten noch durch die Scharten, Haufen von Hülsen waren um sie verstreut. Dann in den Stellungen, die das Werk umringten, bis plötzlich der Gedanke, dass Minen vor ihnen liegen könnten, mit das Studium verleidete.

Durch Bouillon, das eine alte Bergfestung überragt. Inmitten der Stadt zertrümmerte Häuser, niedergeworfene Strassenzüge, besonders rings um die alte Brücke in ihrem Kern. Leute kamen mit Weinflaschen vorbei; ich entsandte Rehm mit dem Fahrrad, um die Quelle aufzuspüren; er kam mit einigen Bouteillen Burgunder zurück. Wie er erzählte, war er in einem Heeresmagazin gewesen, in dessen Keller eine stark angeheiterte Gesellschaft beisammen sass. Überhaupt ist die Vormarschstrasse von Sekt-, Bordeaux-, und Burgunderflaschen gesäumt. Ich zählte wenigstens eine auf den Schritt, abgesehen von den Lagerplätzen, die aussahen, als ob es Flaschen geregnet hätte. Das gehört ja wohl bei einem Feldzug in Frankreich zur Überlieferung. Jeder Einmarsch germanischer Heere ist von einem Tieftrunk begleitet, wie ihn die Götter der Edda taten und dem kein Vorrat gewachsen ist.

Quartier in Givonne, mit Massenunterkunft im Schloss. Im Ort starke Verwüstungen; oft waren an den Stellen, an denen die Häuser gestanden hatten, nur ungeheure, mit gelben Wasser angefüllte Trichter zu sehen. Im Park frische Gräber deutscher Sanitätssoldaten, die dort durch Bombentreffer gefallen sind. Das Auto des Besitzers liegt, die Räder nach oben, im Schlossteiche. Ich schlief im Kinderzimmer neben einem Regal voll Bücher auf dem Boden und blätterte vorm Einschlafen noch in den Schulheften.

(Bild: Givonne, Postkarte, vue générale, um 1930)

Tuesday, July 14, 2009

Neufchâteau, 25. Mai 1940

Am Morgen Abmarsch über Martelange. Dort war die Brücke zerstört, auch viele Häuser, wohl infolge von Sprengungen. Hier und dort sah man die Bauern schon wieder auf den Feldern arbeiten. Ists Zuversicht, ist es insektenhafter Trieb, was den Menschen so unverdrossen inmitten der Vernichtung zum Werke zwingt? Indem ich dies notiere, erhebt sich in mir die merkwürdige Replik: "Du führst ja auch Tagebuch."

Bolanges, Fauvillers, Vitry. Auf diesem Wege Spuren von Kämpfen zwischen Aufklärungsarbeiten, sehr übersichtlich, wie für einen taktischen Spaziergang aufgebaut. Man sah Häufchen von Hülsen an den Stassenrändern, daneben Gräber, dann Spuren von Panzerwagen, die sich auf den Feldern entwickelt hatten und von denen einer im Feuer geblieben war, und endlich eine Stassensperre, wieder mit Gräbern und belgischen Stahlhelmen darauf.

In Traimont Mittagsrast. In einem Häuschen, aus dessen Brunnen ich Wasser holen liess, lud mich der Besitzer zu einer Tasse Kaffee ein. Ein Bauer von sechsundsiebzig Jahren - sagte übrigens septante-six statt soixante-seize. Hatte drei Kriege gesehen, besitzt drei Hektar Land, dazu Sohn, Schwiegertochter und sieben Enkelkinder. Ich gab den Kleinen, die sehr zutraulich waren, Geld für die "tirelire".

In Neufchâteau schlugen wir am Stadtrand Zelte auf. Die Stadt machte einen anarchischen Eindruck. Der grösste Teil der Einwohner ist geflüchtet, die Häuser stehen leer, der Hausrat ist zusammengeworfen. Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, dass kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann. Zur Veranschaulichung liess ich Stroh, dass ich für die Zelte aus einer nahen Scheune beigetragen hatte, vor der Front durch den Rechnungsführer schätzen und seinen Preis der Besitzerin sogleich bar auszahlen.

Der Eintritt in solchen Zonen wirkt immer lockernd - das merkte man auch bei der üblichen Befehlsausgabe, bei der wegen irgendeiner Pferdesache ein Wortwechsel zwischen den Offizieren entstand. Ich war neugierig, wie der Kommandeur sich verhalten würde. Er beschränkte sich darauf, zu sagen: "Meine Herren, wir wollen doch Kavaliere bleiben, sonst kommen wir nicht weit." Der kleine Satz wirkte gut, gleichsam aufweckend.

Gegen zwei Uhr morgens Flakfeuer im Ort, doch keine Abwürfe. Tagsüber, wie immer, nur deutsche Maschinen.

Monday, July 13, 2009

Rambruch, 24. Mai 1940

Über Rollingen und Reckingen, mit dem Marschziel Hemstert in Belgien. In Säul erschien jedoch der Regimentskommandeur mit dem Befehl, rechts einzudrehen und Rambruch zu erreichen - offenbar eine Bewegung operativer Art.

Mittagsrast auf einer Wiese bei Ospern. Das Essen war wie immer pünktlich fertig und gut gekocht, da die Köche Tag und Nacht fast ohne Pause arbeiten. Beim Abmarsch liess ich daher den Schützen Rumke von der Küche holen und vortreten, worauf ich ihn, mit der Begründung, dass die Linsensuppe wieder vorzüglich geschmeckt habe, zum Gefreiten beförderte. Da dieses Argument noch einem jeden aus frischer Erfahrung einleuchtete, rief es grossen Beifall hervor.

Wir marschierten durch die angenehme luxemburgische Weidenlandschaft bis Rambruch; dort lag ich in einem kleinen Café im Quartier. Besitzer war ein dicker, gemütlicher Mann, etwa dreissigjährig, vom flämischen Typ. Wenn es nur solche gäbe, hätte man keine Kriege, doch ununterbrochene Zechgelage auf dieser Welt. "Jungs, ihr trinkt doch kein Wasser?" begrüsste er, gelich Bier eingiessend, vier junge Arbeiter, die bei ihm eintraten.

Lintgen, 23. Mai 1949

Abmarsch wie gewöhnlich. Beim Verladen der Waffen schnappte ich die Antwort eines Unteroffiziers auf, dem ein Fahrer widersprach:
"Es wäre mir lieber - - - -"
"Halten Sie den Mund! Lieber wäre es mir, wen ich hier eine Badeanstalt hätte."

Bei Echternach über die luxemburgische Grenze, deren Überschreiten ich mit einem "Ran wecke!" markieren liess. Das erste Haus an der Grenze war durch die Sprengung des Brückenhindernisses zerstört. Vor den Fenstern hingen die Jalousien herab. Hinter dem sehr sauberen Ort an der Strasse wieder einige Trichter; hier hatte man wohl eine Sperre gesprengt. Durch Altrier. Mittagsrast in einem kleinen Hofe, dort Unterhaltung mit dem Besitzer, einem Jagdhüter. Es fiel mir an diesem Manne, wie an den meisten Luxemburgern, die gewählte Sprache auf. Das liegt wohl daran, dass, statt wie gewöhnlich Luxemburger Platt, bei solchen Begegnungen Hochdeutsch nach dem Buche gesprochen wird. Auf diese Weise gewinnt man den Eindruck, dass der Rede Überlegung und sorgfältiges Bemühen vorangegangen sind - und entsprechend, dass sie an aufmerksame, nachdenkende Wesen gerichtet ist.

Starker Marsch nach Lintgen, dort bei einem Bäcker im Quartier. Der Ort war überfüllt von Soldaten und Flüchtlingen. Auch bei meinem Bäckermeister traf ich vertriebene Luxemburger an. So unterhielt ich mich beim Abendessen mit einer fünfzigjährigen Frau, die , wenn ich den Namen recht verstand, in Düttweiler gewohnt hatte, wo der Vormarsch auf die französische Grenze gestossen war. Sie hatte sich bei den Gefechten, die dort entstanden waren, in den Keller begeben und darin ein paar Tage verbrachte, während Granaten ihren Garten verwüsteten. Eine von ihnen riss den Erker ihres Hauses ein, eine andere fällte den alten Apfelbaum. Splitter durchsiebten das Dach, die Hühner lagen mit abgeschlagenen Köpfen im Hof, die Schweine entliefen aus dem zerstörten Stall; das Bett, das sie im Keller aufgestellt hatte, wackelte. Dies alles erzählte die derbe Person, die sich derlei gewiss selbst in ihren tiefsten Träumen niemals hatte einfallen lassen, mit Heiterkeit, fast lachend, oder vielmehr mit einer starken inneren Fröhlichkeit, die mich lebhaft ergriff. Übrigens hatte sie noch bleiben wollen, wir hatten indessen den Ort geräumt.

Auf dem Marsch erfuhr ich durch Urlauber, dass die Werke von Missburg, ganz nahe bei Kirchhorst, durch Bomben getroffen sind. Ich dachte dabei an Perpetua, die Kinder, meine Sammlungen und Manuskripte, die dort unter dem Dachboden lagern, ohne dass ich der Lampe Nigromontans schon würdig bin. Das ist in der Tat der totale Krieg, während dessen man an jedem Punkt der Existenz gefährdet ist.

Friday, July 10, 2009

Welschbillig, 22. Mai 1949


Wieder in aller Frühe Wecken, dann Marsch über Fell und Longuich durch das Moseltal, am Fusse der mächtigen, auf das sorgfältigste bestellten Weinberge entlang. Ich hatte dabei den Eindruck letzter Ausgeformtheit, der sich durch den Anblick der Brücken, der Bauten und der vor den Häusern stehenden Einwohner noch steigerte. Dazu Namen wie Dezem und Quint. Mir kamen die schönen Verse des Antonius in den Sinn. Hier ist unsere romanischste Ecke, abgesehen vom Südtirol. Die Wahl der Striche, in denen die Römer siedelten, hing nicht vom Zufall ab. Wir Menschen sind Wesen mit unsichtbaren Wurzeln, die überall zu leben wissen; Gedeihen aber bringt und nur der angemessene Ort.

Das Wetter war drückend, schwül; diesmal gab es weniger Fuss- als Magenkranke, dazu Erbrechen, Nasenbluten, Kopfschmerzen, Übelkeit. Nachdem wir in der grellen Sonne eines Steinbruchs in der Nähe von Ehrang Mittagsrast gehalten hatten, verspürte ich Schmerzen im Nacken und bestieg den braven Justus, der schlecht und recht dahinstolperte.

Während des Marsches erfuhren wir in den Dörfern und kleine Städten durch Lautsprecher von den gewaltigen Erfolgen des Angriffs, von denen ich, dem die ungemeine Zähigkeit der Fronten durch hundertfache Erfahrung zu einer Art von Dogma geworden ist, besonders überrascht wurde. Dieser Krieg weicht eben in allen Einzelheiten vom Schema des verflossenen ab, an das ich meine Gedanken daher nicht länger heften will.

Unterkunft in Welschbillig. Ich wurde hier in einem Hause, das auf römischen Grundmauern steht, bei einem Bauern einquartiert. Nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, schickte mein Wirt mir durch Rehm eine Schüssel von Bratkartoffeln mit eingemachtem Rindfleisch, die zur Sättigung von drei Holzfällern genügt hätte. Das Verhältnis des Quartierwirts zum Soldaten ist ein besonderes, insofern es, ähnlich dem heiligsten Asylrecht, noch zu den Formen der uralten Gastfreundschaft zu rechnen ist, die man ohne Beziehung auf das Individuum gewährt. Der Krieger hat das Anrecht, in jedem Haus zu Gast zu sein, und dieses Vorrecht zählt zu den schönsten, die ihm sein Stand gewährt. Er teilt es einzig mit dem Verfolgten, dem Leidenden.

(Bild: Historische Karte der Mosel, 1646)

Wednesday, July 8, 2009

Bescheid, 21. Mai 1940


Um drei Uhr Wecken, das mir Einblick in einen ausgesuchten Traum gewährte - ich unterhielt mich über den Stil von Cassiodor, und zwar mit einem ritterlichen Jäger des frühen Mittelalters, der ein feiner Kenner der Alten war. Dabei bereitete es mir im Gespräch keine Mühe, dass ich einmal ein Zeitgenosse des Autors, dann des Jägers und endlich des 20. Jahrhunderts war. Ich blickte wie durch ein Glas, in dem drei Farben sich vereinigten. Trotz der frühen Stunde erwachte ich sehr glücklich in der Erkenntnis, dass der Humus, aus dem mir das Wort erwächst, noch reich an unerschöpften Möglichkeiten ist.

In köstlicher Morgenfrische durchs Idartal, in dessen grünen Gründen die kleinen Achatmühlen nisten, baufällig und eingesponen wie Sitze der Alchimisten oder der Venediger. Man ahnt bei ihrem Anblick, dass sich hier das Handwerk zu hoher, magischer Stufe emporgeschwungen hat. Neben mancher von ihnen lagerten in Haufen die grauen, kindskopfgrossen Achatknollen. Edelsteinmühlen. Wo die Schätze gewaltig werden, verliert sich ihr Verhältniss zu Gelde; sie treten in eine höhere Ordnung der Kostbarkeit.

Dann bei steigender Hitze durch die Wälder des Hunsrück, über die Geschwader auf Geschwader nach Wetsen zog. Mittagsrast in Talling; hier erquickte mich eine Bäuerin mit einem Glas Buttermilch. Als endlich nach starkem Marsche die Quartiere an die Kompanien verteilt wurden, erhielt ich für die meine das Dörfchen Bescheid, das auf einem hohen Berge liegt. Zuvor wurde das Gepäck abgeladen, da wir den Tross im Tal zurücklassen mussten; und um die Mannschaft ein wenig zu ermuntern, nahm ich mit meinen beiden Offizieren drei recht gut gepackte Tornister auf. In dichten Staubwolken brach auf den steilen Schlangenpfaden der Schweiss in Strömen aus. Dennoch war dieser Marsch vielleicht das beste Mittel gegen meinen Katarrh, denn als wir auf dem Gipfel ankamen, fühlte ich auf der Brust Erleichterung. Ich übernachtete in einem kleinen Hause, in dem jedes Zimmer mit schönen Kupferstichen behangen war. An den Bildern erkennt man den Wert einer Einrichtung; sie sind die Siegel des Geschmacks.

(Bild: Illumination einer Handschrift des Codex Amiatinus. Man nimmt an, sie stelle Cassiodor dar.)

Idar, 20. Mai 1940


Ruhetag in Idar. Am Vormittag in der Gewerbehalle, einer Art von Handelsmuseum, in dem Halbedelsteine in Hülle und Fülle zur Schau stehen. Besonders gefiel mir ein schalenartiger Schliff durch einen grossen Amethystenblock mit eingesprengten Achaten, derne Prunkaugen aus dem violetten Kristallschnee aufblühten. Zugleich empfand ich die eigentümliche Beängstigung, wie sie uns die Nähe der Gesteinswelt mit ihren Höhlen, Grotten und Schächten mitzuteilen pflegt, in denen der Geist, wie durch Zaubersprüche tief eingeschlossen, in kalter Schönheit in Fesseln liegt.

Während des ganzen Tages summten die Flugzeuge, wohl Transporter, über den Talkessel hinweg. Am Abend tranken wir auf der Terrasse eine Erdbeerbowle im Vollmondschein.

(Bild: Idar-Oberstein um 1875, van Prouyen)

Idar, 19. Mai 1940


Wecken um Mitternacht. Der Pfarrer empfing uns noch zu einer Tasse Kaffee in seinem Studierzimmer, in dem er die Predigt für den Sonntag vorbereitete. Da ich in den letzten Monaten viel in Pfarrhäusern lebte, gewann ich ein Organ für den atmosphärischen Unterschied in den evangelischen und den katholischen. Dergleichen lernt man nicht aus Geschichtsbüchern. Bei den Protestanten hat man auch das Gefühl von kleinsten Teilchen, die durch eine magnetische Anstrengung in der Schwebe gehalten sind. Es ist auch der Unterschied von alter und Leistungsaristokratie. Gedanken über das Unvermeidliche der Reformation. Man muss sich bemühen, das in der Einheit zu begreifen - so wie bei einem Wagen, wenn die Steigung wächst, ein zweiter Gang zur Wirkung zu bringen ist. Der Antrieb wird ethischer. Nichts spricht dagegen, dass es im weiteren Verlaufe zu einer Kirche kommt, zur Organisation der Christenheit.

Marsch über Wolfstein, Oberjeckenbach und den Truppenübungsplatz Baumholder mit seinen ausgestorbenen Siedlungen, dann über Bollenbach bis Idar-Oberstein. Hier sollten wir zunächst bei Tiefenstein biwakieren, wurden nachmittags aber im Städtchen einquartiert. Beim Abmarsch traf eines der Pferde den Leutnant Wanckel mit dem Huf in die Leistengegend; wir mussten ihn forttragen.

Wir kamen oben auf dem Berg bei einem Fabrikanten unter, der sich als heilkundig erwies und mir gegen meinen Katarrh einen guten Umschlag bereitete. Beim Abendessen Unterhaltung über Halbedelsteine, deren Handel und Verarbeitung am Orte blühen. Bereits die Römer unterhielten hier Achatgruben, und wie unser Quartierwirt sagte, bewahrten sich in Idar römische Familiennamen aus jeder Zeit. In der Tat sah ich beim Einrücken das Firmenschild eines gewissen Cäsar, der zum Überfluss noch den Vornamen Julius trug.

(Bild: Wappen Idar-Oberstein, Rose-Forsthaken-Eichel)

Grumbach, 18. Mai 1940


Über Lauterecken nach Grumbach, das lieblich in Obsthänge eingekesselt liegt. Ich wurde mit den Offizieren beim Pfarrer untergebracht.

Unser Tageslauf regelt sich jetzt so, dass wir bei Anbruch der Dunkelheit abmarschieren und bis zum Vormittag auf den Strassen sind. Dann Schlaf bis in den Nachmittag, Essen, Gewehrreinigen, Fussappell und Empfang des neuen Marschbefehls.

Ich bin unter dem Dach in einem Kämmerchen einquartiert, mit schönem Ausblick auf blühende Wiesen und Kastanien. Unter dem Mobiliar fällt mir ein abgenutzter Waschtisch mit schwarzer Marmorplatte auf, in der neben hellen Korallengliedern auch eine Muschel von der Grösse eines Hühnereies versteinert ist, im feinen Querschliff, der die hohen Rippen des Kammes gleich Stacheln und das Schloss gleich Zacken trägt. Das kleine Phänomen war, wie ich nachher beim Abendessen erfuhr, noch nicht beachtet worden, obwohl der Tisch seit Jahrzehnten im Hause steht.

(Bild: Grumbach um 1890)

Kaulbach, 17. Mai 1949

Wieder ein tüchtiger Nachtmarsch durch die Hardtberge über Hochspeyer, Kaiserslautern, Otterberg nach Kaulbach. In Kaiserslautern fragte ich bei einer Stockung einen Luftschutzposten nach dem Weg. Dieser, ein älterer Mann, hatte sich dann wohl bei der Mannschaft nach mir erkundigt, denn nach einer Weile kam er mir nachgeeilt und stellte sich mir als Leser vor. Er brachte eine Flasche sehr guten Pfälzer Weines mit und überreichte mir ein Glas, das er, indem er mich eine Strecke geleitete, nicht leer werden liess. Diese Begegnung in der Finsternis hatte etwas Eigentümliches, Geistiges. Ich fühlte, dass man als Autor auch in der Dunkelheit zu Hause ist.

Dann Rast in einem Buchenwald, an dessen Rand die Äste bis auf den Boden hingen und Zelte bildeten, under denen wir vespertem. Hinter Otterberg ein totes Pferd am Wegrand - der erste Verlust. Unterkunft in Kaulbach, wo wir in einem Bauernhof bis tief in den Nachmittag schliefen und dann bei einem kleinen Festmal Keuneckes Geburtstag feierten.

Wir marschierten also in westlicher Richtung durch die Pfalz und bewegen uns entweder auf die grosse Schlacht oder auf eine der geplanten Aktionen zu. Auch wächst, je weiter wir vormarschieren, die Möglichkeit, dass wir links abgedreht werden. Es geht mir dabei fast wie 1914, wo ich befürchtete, nichts mehr von den Gefechten abzubekommen.

Tuesday, July 7, 2009

Weidenthal, 16. Mai 1940


Nachtmarsch von Speyer nach Weidenthal. Während wir Neustadt an der Hardt durchschritten, kündeten die Sirenen Fliegeralarm, ohne dass es jedoch zu Abwürfen kam, die uns in den engen Strassen zu schaffen gemacht hätten. Der Marsch war angreifend. Wie immer bei solchen Anstrengungen traten verborgene, bis dahin unbekannte Talente hervor, so in der ersten Gruppe hinter mir, in der sich viel Witz entfaltete. Gegen sieben Uhr rückten wir in die Quartiere ein. Nach gutem Schlummer ging ich zur Post und sandte meine Manuskripte und Tagebücher nach Kirchhorst. Ich führe nur noch dieses Heftchen mit. Zum Abschied ass ich mit meinen beiden Offizieren, Keunecke und Spienlli, recht gut beim Bürgermeister, bei dem wir zu dritt gewohnt hatten. Die Bürgermeisterin bereitete uns am Tische den Salat.

(Bild: Wappen von Weidenthal, Bischofsstab)

Speyer, 15. Mai 1940


Gegen Abend marschieren wir in guter Stimmung über Graben ab. Die Friedrichstaler hatten uns und die Pferde reich mit Blumen geschmückt und gaben uns noch bis in die Hardt Geleit. Wir schieden ungern von den guten Leuten, sie hatten uns verwöhnt. Dann brach die Dämmerung herein. Wolken von Maikäfern schwirrten über den Waldwegen oder kreisten um die schon fast kahlen Apfelbäume an der Landstrasse. Wie uns bei solchen Gelegenheiten fast immer eine kleine Beeinträchtigung stört, so war es diesmal ein Katarrh, der mich plagte; ich führe daher Emser Pastillen mit. Nach gutem Marsche kamen wir gegen Morgengrauen in Speyer an.

(Bild: Wappen von Speyer, Dom-Ansicht)

Tuesday, January 20, 2009

Friedrichstal, 14. Mai 1940


Marschbefehl für heut abend, mit unbekanntem Ziel. Vorgestern hielt ich, gerade noch zur Zeit, ein Kompaniefest ab, zu dem wir unsere Quartierwirte einluden. Es gab Spargel aus Graben, Kaffee, Wein, Kuchen, dann Kabarett, zu dem auch eine Tanzschule aus Karlsruhe erschienen war. Gegen Morgen, nachdem ich in meiner Eigenschaft als Ortskommandant einige Male die Polizeistunde verlängert hatte, ging es im Saal und auf den Gängen recht munter zu - das um so mehr, als ich als alter Stosstruppenführer doch schlecht den Tugendwächter spielen kann.

Ich hatte dabei den Eindruck, dass der Geist der kleinen Einheit gewonnen hat. Die Männer sind in der Mehrzahl Magdeburger und als solche für mein Gefühl den Sachsen schon fast näher als den Niedersachsen verwandt. Sie sind lebhafter, geselliger, geschickt an den Machinenwaffen und an grobe Arbeit gewöhnt. Ein Zuruf, den ich öfters schweren oder unangenehmen Dingen gegenüber von ihnen hörte, gefiel mir so, dass ich ihn als Erkennungs- und Schlachtruf für uns einführte - und zwar "Ran wecke!", was eigentlich "Ran welche!" bedeutet, nämlich Hände, wo es zu schaffen gilt. So rufen die Vormänner auf den Magdeburger Rübenfeldern, wenn die Arbeit brennt.

Zur blossen Ausbildung muss noch ein anderes hinzutreten, ehe eine Truppe gut wird, nämlich das Verhältnis von Mann zu Mann, das den Zusammenhalt in den Atomen schafft. Dazu bedarf es immer einiger Zeit; man muss erst einen gewissen Lebensstoff miteinander abgesponnen haben, einen gemeinsamen Vorrat an kleinen Leiden und Freuden ansammeln. Man muss Geschichte ansetzten.

Abschied vom Hardtgrund, bei Spechts- und Kuckucksruf und in Begleitung einer badischen Nachtigall, zierlich und stimmbegabt wie Jenny Lind. Das tiefe, moosige Tannicht zwischen dem Hirschgraben und Linkenheim. Das feine, tockene der Kieferzapfen, aus denen der Sonnenglast die Samen sprengt. Dann im Unterholz versteckte Immenstand, der zur Befruchtung der Königin dient.

(Bild: Jenny Lind, schwedische Opernsängerin, Sopran)

Tuesday, January 6, 2009

Friedrichstal, 10. Mai 1940


In der Nacht Träume von Geschwadern, die über das Haus hinwegzogen. Am Morgen, auf dem Schiesstand, erfuhr ich dann, dass es wirklich in der Luft so rege gewesen war. Es handelte sich um die Transporte nach Holland und Belgien. Damit tritt wohl der Krieg in seine Krisis ein, ohne dass sich indessen seine Dauer schon schätzen lässt.

Am Nachmittag ritten wir mit dem Oberst lange durch die schönen Wälder und machten abends in Graben zum Spargelessen Rast. Während des Rittes kamen verschiedentlich Offiziere und Ordonnanzen auf Motorrädern mit Meldeungen - durch eine von ihnen wurde der Urlaub gesperrt. Wir ind jetzt auf Abruf gestellt.

Nur ungern scheiden wir von Friedrichstal, mit dessen Bewohnern wir uns recht befreundeten. Ihre Herkunft führt sich auf Hugenotten von Wallonenblut zurück, mit Namen wie Lacroix, Borel, Gorenflo - entstanden aus coeur-enfleurs. Sie brachten um 1720 die Kenntnis des Tabakanbaues mit und beliefern heute ganz Baden mit jungen Pflanzen, deren Beete man überall im Ort unter Rahmen von Ölpapier erblickt. So ziehen sie aus ihrer Erde zehnfachen Gewinn. Freilich erfordert dieser Anbau auch viel Sorgfalt und Mühe, und wie ein Sprichwort dieser Gegend sagt, kommen die Friedrichstaler nur kniend und einzig mit dem Kopf im Bett zum Schlaf.

Dafür sind sie vermögender, heiterer, stets zum Vergnügen bereit und lassn gern etwas draufgehen.

(Bild: Friedrichstal um 1900)

Friedrichstal, 8. Mai 1940

Regimentsübung, die durch die Länge der Hardt bis nach Teutsch-Neureuth spielte und an der ich mich als Schiedsrichter beteiligte. Der Morgen war frisch und klar; im Walde streiften die Hufe der Pferde durch Inseln blühender Maiglöckchen. Nach kurzem Gefecht um den Waldrand "Das Ganze halt". Seiner Besprechung legte der General den Satz zugrunde, dass die Entscheidung dieses Krieges nur durch den Angriff mit anschliessender Bewegung, und zwar im Westen, zu erwarten sei.

Auch in der Kompanieausbildung streben wir den Angriff gegen weitgestreckte Ziele an; sie soll Mitte des Monats mit einer Besichtigung abschliessen. Ausserdem leite ich an zwei Tagen der Woche den Stosstruppendienst, zu dem jede Kompanie eine ausgesuchte Gruppe stellt. Wir üben entweder an einem kleinen Werk den Einbruch mit scharfer Ladung oder im Walde den umfassenden Angriff auf Bunker und Blockhäuser.

Friedrichstal, 28. April 1940

Im Hardtgrund, in dem sich noch ein Hauch uralter Wäldereinsamkeit erhalten hat. Gewitter, mit Blitz und Sonnenschein, dazu der Wirbel der Spechte nah und fern. Ein Schwarzspecht strich über mich hin, als ich in einem Eichenschlage auf dem Moos lag, und glitt dann spiralig einen alten Stamm hinauf. Das Tier ist doch nicht recht geheuer, zumal in dem Verhältnis des schmalen Halses zum grossen Kopf. Die starren Schwingen strahlen im Flug ein hörnernes Pfeifen aus; der wiehernde Schrei ist klagender als der des Grünspechtes. Der volkstümliche Name "Feuerhenne" ist gut gewählt.

Nach solchen Stunden fällt es mir recht schwer, mich noch in die Geschäfte zu vertiefen; ich gerate ins Träumen, als müsste ich die Augen auf eine andere Entfernung einstellen. Die Einsamkeit der Wälder ist so herrlich, dem Eingang in feierliche Räume gleich.

Auf dem Tische blüht in einer Vase ein Fliegendes Herz - auch eins meiner Teststücke. Ich messe die Freude, die ich an ihm empfinde, und es scheint mir, dass sie noch niemals grösser war. Wie unzulänglich wird doch vor einem solchen Blütenzweige unser gesamtes System. Das sind Erklärungen der Not - wer aber erklärt den Überfluss?

Friedrichstal, 23. April 1940


Erkältung in unangenehmen Stadium, das nicht flüssig werden will. Dazu am Vormittag Sturz vom Pferde, das auf dem Übungsplatz in eine Grube trat, mit dem Kopf voran, glücklicherweise auf weichen Grund. Immerhin spürte ich eine kurze Betäubung, die auch noch anhielt, während die Männer mich abstaubten; ich stand zwischen ihnen wie ein Objekt. Abends mit der Post unangenehme Nachrichten.

Nachmittags im Bruchsaler Schloss mit dem berühmten Treppenhaus, von dem sich leider kein gutes Bild auftreiben liess. Neben den Treppen im Schloss von Meissen, die wie Spindeln in den massiven Stein gebrochen scheinen, sind diese die schönsten, die ich jemals sah. Die Überraschung, die ein solcher Bau hervorruft, wäre noch grösser, wenn man nicht hin und wieder bereits seine Nachbildungen gesehen hätte - doch ist der Eindruck prima vista ein Vergnügen, das den Zeitgenossen vorbehalten bleibt.

Wenn wir fasten, um uns zu kurieren, handeln wir gleich einem Hausherrn, der seinen Koch für eine Zeitlang vom Dienst entbindet, weil er einen ungebetenen Gast hinauswerfen soll. Das Fasten ist grosse Medizin; sie gibt nicht nur Gesundheit, sondern auch Musse und geistige Macht.

(Bild: Treppenhaus Schloss Bruchsal, 1945 zerstört, 1970 rekonstruiert)

Monday, January 5, 2009

Friedrichstal, 20. April 1940


Am Morgen im Wald. Indem ich eine Rindenschuppe vom Stamme einer Rosskastanie abblätterte, erblickte ich darunter einen mir unbekannten Mycetophagus - ein länglich ovales, dunkelbraunes Tier mit violettem Schimmer, zackigen Binden und gesternten Makeln aus goldenem Haar. Das ist doch die reine Schatzgräberei.

Das Studium der Insekten zählt zu den Genüssen, die mit dem Alter zunehmen. Die Kenntnis der Arten, wie man sie in dreissig, vierzig oder auch sechtzig Jahren der Betrachtung erwirbt, gleich einer Pyramide, an deren Spitze jeweils das neue Fundstück steht. Es leuchtet ein, dass mit der Masse der Erfahrungen auch das einzelne an Wert gewinnt.

Man könnte auch an ein Kreuzworträtsel denken, an dem das Vergnügen mit der Zahl der ausgefüllten Felder wächst. Aus diesem Grunde war das Leben von Männern wie Rösel, Dohrn, Fabre, Reitter, Seitz und Ganglbauer sicher sehr angenehm. Nur müssen wir, wenn ein so schönes Ackerfeld des Glückes uns anheimgefallen ist, uns vor den Seitensprüngen hüten, wie sie der junge Botaniker in Hoffmanns "Datura fastuosa" vollführt.

Am Nachmittag im Zimmer gedämmert - ich beobachtete dabei, wie schon des öfteren, dass solch ein geschlossener Raum unter gewissen Voraussetzungen zur camera obscura wird. Man sieht die Menschen, die draussen auf der Strasse gehen, in grosser Schärfe auf der Decke oder an der Wand. Warum wohl in der Betrachtung dieser Schattenbilder ein bösartiger Genuss verborgen liegt?

Am Abend schöner heller Vollmondschein. Wenn bei solcher Beleuchtung sich die Umrisse von Hecken, Zäunen, Lauben und anderen Gebilden auf den Boden abzeichnen, ergreifft uns zuweilen eine Stimmung, in der sich Bezauberung und Furcht vereinigen. Ich fragte mich schon oft, worauf sie beruhen mag, und meine, dass sich in diesem Schattenwerk die Formen zugleich enthüllen und vergeistigen. Sie treten in eine höhere Ordnung ein, in die der Unzerstörbarkeit, die ihrer Linienführung innewohnt. Die Dinge wirken in ihrem mathematischen Signet, stoffloser und mächtiger zugleich. Wir treten in Scheu in diese Schattengitter ein und scheinen, indem wir sie durchschreiten, mit nächtlicher Geisteskraft begabt. Doch halten wir zugleich den Atem an - wenn jetzt ein Zauberspruch erklänge, dann würden wir unwiderstehlich in die Materie gebannt.

Casanova. Die Historiker, die ihm nachrechnen, sind doch sehr langweilig. Die Quellen ersten Ranges springen hier in den Memoiren und nicht in den öffentlichen Registern von Venedig, Paris oder Wien. Den Menschen enthüllt man nicht, indem man ihn der Lüge überführt - er enthüllt sich vielmehr durch die Art und Weise, in der er lügt.

Casanova als Schauspieler. Kind von Schauspieler, Gefährte von Schauspielern. Seine Erscheinung, seine Spitzen, seine Diamanten, seine Dosen, sein Schmuck. Er fragt den Papst, ob er den ihm verliehenen Orden vom Goldenen Sporn mit Diamanten verzieren darf. Als Bernis ihm den Staatsauftrag erteilt hat, führt er ihn nicht als Diplomat, sondern als Schauspieler durch. Bei dem Gastmahl in Köln triumphiert er über den biederen Ketteler, der ihn wahrscheinlich an Substanz überlegen war, als Schauspieler. Ähnliche Züge spielen in das Duell mit Branicki ein, diese unerschöpfliche Quelle seiner Eitelkeit. Dort in Polen, wie überall wo er länger verweilt, mindert sich bald die Meinung, die man von ihm hegt. Er erwähnt das in seinen Aufzeichnungen, ohne dass es in seiner Erinnerung einen nachträglichen Schatten auf seine Triumpfe wirft. Das ist ein schauspielerhafter Zug; es genügt ihm, wenn er für den Abend blendet und glänzt. Dennoch könnte man nicht sagen, dass er den Sinnspruch "Mehr sein als scheinen" in sein Gegenteil verkehrt - und zwar deshalb nicht, weil Sein und Scheinen für ihn in einer besonderen Weise gleichbedeutend sind. Er ist Schauspieler von Geblüt; Bühnenerfolge sind daher für ihn real.

Übrigens - was kann er den ablügen? Etwa, dass er, der grosse Künstler auf diesem Gebiet, doch nur Frauen zweiten Ranges besessen hat? Es bleiben, Henriette eingeschlossen, Schauspielerinnen, Abenteurerinnen und Damen, die schlecht bei Kasse sind. Was Auswahl betrifft, gibt es andere Amatores, wie Byron, an denen man sich ein Beispiel nehmen soll. Merkwürdig, dass der Chevalier über alles, was Manon Baletti anbetrifft, nur dahingleitet. Sie nahm aber doch wohl den grössten Raum in seinem Leben ein - freilich hinter den Kulissen, und davon spricht man nicht.

Wie erklärt sich die Anziehung, die dieser an Fehlern reiche Venezianer auf uns übt? Nach welchem Muster wählt unser Gedächtnis aus der ungeheuren Fülle derer, die jemals leten und sich hervortaten? Warum ist uns ein Vagabund wie Villon noch vertraut, während unzählige Ehrenmänner, die zu seiner Zeit einen Namen besassen, der Vergessenheit anheimgefallen sind? Dem muss das Mass an ungesonderter Lebenskraft zugrunde liegen, die, wie Saft aus den Wurzeln, in die Taten und Werke steigt - eine Kraft, in der wir jenseits aller Verdienste und aller Moral uns selbst erkennen, weil sie unser gemeinsames Erbteil ist.

(Bild: Giacomo Casanova portraitiert von Alessandro Longhi)

Friedrichstal, 16. April 1940

Gestern, am Nachmittag, brach ein Föhnwind in das Rheintal ein, der mich indessen nicht wie sonst bedrückte, sondern belebte und erheiterte. Der Auwald erschien mir in der klaren Luft so königlich - das junge Gras durchsichtig, smaragden leuchtend, und die Pappeln als helle, schlanke Schäfte, in denen Anmut wohnt und deren hoher Wuchs den Menschen, der unter ihnen wandelt, mit Stolz begabt. Die ersten Schwalben spielten in den noch kahlen Kronen, die Enten strichen zu Paaren aus dem Röhricht der stillen Tümpel ab, das Bläshuhn tauchte leise in ihre Tiefe ein.

Um elf Uhr wurden wir abgelöst und marschierten bei hellem Mondschein bis Baaden-Oos, wo wir in einer Kaserne übernachteten. Bei Tagesanbruch fuhren wir mit der Bahn nach Bruchsal und erreichten von dort bei strömenden Regen die auf vier kleine Orte verteilte Unterkunft. Zwei Kompanien, darunter die meine, bezogen Quartier in Friedrichstal, einem der Haupplätze der badischen Tabakkultur. Ich kam im oberen Stockwerk einer kleinen Villa unter, die einem Zigarrenfabrikanten gehört, in einem Zimmer, von dessen Fenstern man einen schönen Ausblick auf die Hardt geniesst.

Wir werden hier einige Wochen in Ruhe liegen und ausbilden.

Friday, January 2, 2009

Auwaldhütte, 14. April 1940


Am frühen Morgen weckten mich die Maschinengewehre vom Panzerwerk „Roter Rhein“ – das neue in der oberen Scharte des Panzerturmes und das überschwere, das unseren rechten Flügel flankiert. Ich rief Erichson an und gab ihm Feuerbefehl. Dann fuhr ich, nachdem ich mich hastig angezogen hatte, mit dem Rade durch den Auwald nach vorn.

Kurz vor dem Stand geriet ich in eine Garbe, die in die Pappelstämme klatschte, und suchte eilig den Verbindungsgraben auf. Spinelli, der bereits an Ort uns Stelle war und mit der Besatzung hinter der Betonwand des Bunkers stand, winkte mich richtig ein. Ich liess zwei schwere Gewehre auf die Scharten richten und teilte Scharfschützen ein. Dann ging ich, um noch einen guten Richtschützen zuzuziehen, zu Erichson, in dessen Kampfraum ich den Krankenträger fand. Er war damit beschäftigt, Erichson zu verbinden, der stark am Halse blutete, auch hatte er drei Schützen, die surch Splitter verletzt waren, mit Jod betupft. Sie waren alle benommen wie Fische, die plötzlich an die Luft gezogen sind.

Ich hörte, dass ein Schartentreffer mit lautem Knall und einem Feuerstrahl im Raum auseinandergeflogen war. Andere Geschosse hatten das Maschinengewehr am Lauf getroffen und das Zielfernrohr gekappt, das auf dem Tische lag. Zum Glück war auch Erichson nur leicht verletzt, so dass ich mich gleich wieder zu jenem Stande begeben konnte, der unser Brennpunkt ist.

Die Garbe strich noch durch den Wald, in dem mir der Verbindungsgraben zustatten kam. Freilich war er noch nicht durchlaufend ausgebaut, so dass es auch Stücke zu überspringen gab. Sehr gut die Kalkulation an Strecken, an denen es so über Deckung geht. Der Geist stellt immer eine scharfe Wahrscheinlichkeitsrechnung an, ehe der Körper springt.

Vor dem Stande hatte Spinelli schon alles aufgebaut. Ich ging noch einmal an das Scherenfernrohr und visierte die Scharte an, aus deren Schlitz ein neues und stärkeres Gewehr als jenes vor unserer letzten Räucherung hervorragte. Nachdem ich den Richtschützen eingeschärft hatte, dass es von ihnen abhänge, ob der Beschuss ernsthaft erwidert würde oder nicht, gab ich das Feuer frei. In diesem Augenblick strichen drüben, wie vor einer Zauberhandlung, zwei Elstern mit leuchtend weissem und erzgrünem Schimmer von den Bäumen über die Kuppel ab.

Dann hämmerten die Gewehre, und die glühenden Garben trafen sich im Schartengrund. Zuweilen griffen die Geschosse höher und schnitten den Pappeln, die im Innenhof des Werkes wachsen, die Zweige ab, oder sie rutschten, und die Einschläge stäubten auf den Beton der Mauer und spritzten in den Rhein. Andere zupften an der Trikolore, die neben dem Turme weht.

Ich sah, wie drüben das Gewehr das Feuer sogleich erwiderte, doch hörte nach einer kurzen Spanne das Stossen der von einem leichten Dampf umspielten Mündung auf. Ich hatte das vorausgesehen, denn das Dauerfeuer hält die Waffe gleich einer Zange fest, da die Bedienung nicht wagt, die währenddessen zurückzuziehen. So schlägt man sie mühelos entzwei.

Nach diesem Zwischenspiel ging ich zum Frühstück und war dann, wie jeden Sonntag, in Iffenzheim bei Dr. Eiermann, zu Hecht und Moselwein. Der Morgen war rein, klar, frisch in den Farben; auch kehrt im Feuer das Bewustsein, das sich doch stets in Teilen ausserhalb befindet, als aufmerksamer Wächter in den Körper zurück. Man fordert in der Krisis die Aussenstände ein.

Am Abend erfuhr ich, dass der pfenniggrosse Splitter, der Erichson getroffen hat, tief eingedrungen ist. Verletzungen am Hals sind immer peinlich, da sich durch diesen Teil die Lebensbahnen wie durch einen Isthmus ziehen.

Bei den Scharmützeln fühlt man sich hinter den Gewehren in der offenen Feuerstellung wohler als in den Bunkern am Feuerstand. Die winzigen Schlitze und Scharten, durch die das Auge des Verteidigers aus den festen Werken auf das Gelände späht, gleichen Magneten, die die Feuermassen des weiten Raumes auf sich ziehen. Auf diese Weise gerät die Mannschaft, wie in den Taucherglocken der Tiefsee, unter Überdruck. Die Werke sind Mammute des Widerstandes, aber vielleicht gerade deshalb vom Aussterben bedroht, weil der Gedanke der Verteidigung so rein in ihnen zum Ausdruck kommt.

(Bild: Elstern, Pica pica)