Wednesday, July 29, 2009

Gercy, 5. Juni 1940

Am Morgen wieder Ritt durch die schönen Felder, zur Besprechung der neuen Erfahrungen im Angriffsgefecht. Man kann jetzt vorgehen, wie es 1918 unser Traumbild war. Die Pikardie mit ihren sanften Hängen, den Dörfern, die in Obstgärten eingebettet sind, den Triften, an deren Rändern die hohen Pappeln stehen - wie oft hat diese Landschaft mich schon entzückt. Hier spürt man elementarisch, dass man in Frankreich ist; aus diesem Grunde können Tal und Hügel dem Vaterlande nie verlorengehen.

Ich unterhalte mich täglich, schon zur Übung, ausgedehnt mit unserer Wirtin, wobei es immer zu lernen gibt. So heissen die Bienen, les abeilles, leichthin gesprochen auch: les mouches.

Abends Essen beim Kommandeur. Beim Nachtisch erschien ein Melder vom Regiment mit dem Befehl, in einer Stunde marschbereit zu sein. Der neue Angriff soll heut morgen begonnen haben; wir hörten hier nichts davon. Ich schreibe diese Zeilen, während Rehm beim Packen ist.

Gercy, 4. Juni 1940


Ritt durch die Felder und Wiesen, auf denen das ungemähte Kraut in vollem Saft stand - durch Schläge von goldgelben Kompositen, von Margeriten, die mit ihren Sternen den Bauch der Pferde streiften, und durch hellen, grellroten Klee, wie ich ihn sonst nur auf sizilischen Berghängen sah.

Nachmittags Besprechung beim Oberst Köchling; es scheint, dass unseres Bleibens hier nicht mehr lange ist. Abends wieder Gang durch die verlassenen Häuser; als ich ein Zimmer öffnete, stiess ich auf einen grossen schwarzen Hund, der mich mit glühenden Blicken anstarrte. Eilig trat ich in eine Nebenkammer und sah dort auf dem Sofa eine gelbe Dogge und auf dem Boden einen weissen Pinscher, der mich wütend ankläffte. Hier schien das Versammlungslokal der verwaisten Hunde zu sein.

Die Blumen in der Gärten - eine blassviolette Iris mit den gelben Staubbürsten auf dem Kelchblatt, die einen erotischen Eindruck hervorrufen. Der Genuss der Bienen und Hummeln, muss ausserordentlich sein. Vielleicht sind übrigens alle unsere Theorien über die staatenbildenden Tiere verkehrt und ist Genuss, was wir als Arbeit ansehen. Dann die letzten Fliegenden Herzen und Pfingstrosen, auch Phlox, der in der Dämmerung betäubend roch. Um diese Stunden wachen auch seine Farben auf, und Schwärmer umkreisen ihn. Der Phlox, die Flammenblume, ist einzeln unansehnlich, dagegen üppig in grösseren Beständen - das ist der Hegelsche Umschlag in die Qualität.

(Bild: Phlox, Flammenblume)

Gercy, 3. Juni 1940

Ein zweiter Ruhetag in Gercy, dem vielleicht noch weitere folgen werden. Nach den Operationen im Norden findet wohl eine neue Bereitstellung der Panzertruppen statt, zum Stoss auf Paris. Auch unsere Division wird ihn begleiten, doch halte ich es leider bei den neuen und unerwarteten Angriffsgeschwindikeiten für möglich, dass wir Bewaffnete kaum zu Gesicht bekommen werden, falls nicht der Vormarsch in der Marnegegend eine Stockung erfährt. Vor allem bedenklich scheint es mir für den Gegner, dass man kein Flugzeug mehr von ihm zu sehen bekommt.

Ich unterhalte mich viel mit der alten Dame, Madame Robeau, die mir erzählt, dass sie schlafen könne, seit wir im Hause sind.

Gercy, 2. Juni 1940


Gespräch mit der alten Dame, die siebzig Jahre zählt. Ihre Kinder und Kindeskinder sind geflüchtet, ohne dass sie weiss, wohin. Sie erzählte mir, dass bei unserer Annäherung eine Art von Panik ausgebrochen sei. Ihre Tochter hatte sich, während sich in der Nähe von Gercy ein kleines Gefecht entwickelte, mit den Kindern in ein Auto geworfen und war davongejagt, als schon Geschosse um den Wagen herumsausten. Die Alte kränkelte wie eine Pflanze, die man an den Wurzeln erschüttert hatte. Ich sprach ihr Trost zu und Befahl den Ordonnanzen, die sehr verständig sind, ihr jede Arbeit, auch die des Kochens, abzunehmen.

In der Kirche, die verlassen steht. Doch läutet der Aumônier, der zurückgebliben ist. In der Sakristei ein kleines Lager von Abendmahlswein. Indessen schien es, dass durstige Gemüter ihn der kanonischen Vorschrift: "Vinum sacramentale debet esse de gemine vitis et non corruptum" gerecht erfunden hatten, denn die Flaschen lagen geleert am Boden verstreut.

Abends beim Kommandeur. Ich durchblätterte bei ihm ein vielbändiges Werk, in dem die Gemälde des Louvre abgebildet sind, und dachte dabei an das Gespräch zwischen Nietzsche und Burckhardt vor siebzig Jahren über das Schicksal dieser Sammlungen.

(Bild: "La retraite de l'aumônier" von Jules-Alexis Muenier, 1886)

Tuesday, July 28, 2009

Gercy, 1. Juni 1940

Nachts starke Träume, als ob ein Stoff in den verlassenen Wohungen webte, in dem die Traumvegetation zu wuchern beginnt. Es war mir, also ob ich den Kern oder das Gerippe dieses Krieges einsähe.

Ein weiterer Ruhetag in Landifay. Vormittags Appell in Stiefeln, dann Spaziergang nach einem Vorwerke. Ein Puter, Hühner, Enten mit metallischem Gefieder und roten gehörnten Schnäbeln auf dem leeren Hof. In den Speichern Wolle, Hafer, Mais und Korn. Im Speisezimmer war ein grosses Festmahl auf weisse Linnen und mit vielen verschiedenen Gläsern aufgebaut. Die Überreste von Hühnern und Gänsen lagen noch auf den Schüsseln, schon anrüchig, und zwischen halbgeleerten Weinflaschen standen auch solche voll Olivenöl und tierärztlichen Medizinen, in denen die hastigen Zecher wohl Likör erhofft hatten.

Ich suchte zunächst die Hühnerställe nach Eiern ab und trieb dann Unfug, wie durch die Einsamkeit berauscht. So stieg ich auf einen hohen Wasserturm. In einem der Flure erblickte ich einen grossen roten Feuerlöscher, und da ich diese Dinger nie in Betrieb gesehen hatte, stiess ich ihn auf den Boden und entlockte ihm einen weissen, schäumenden Strahl. Plötzlich aber wurde mir bei dieser Beschäftigung widrig zumute, und ich ging in den Ort zurück. Dort liess ich die Quartiere reinigen, auch schlachteten wir einen Sier. Gerade, als alles in Ordnung war, kam Marschbefehl.

Im Nachtmarsch erreichten wir Gercy, wo wir nur noch einige wenige Einwohner antrafen. Wir wurden zu dritt bei einer alten Dame untergebracht, die uns empfing, als ob das Schlimmste von uns zu erwarten sei.

Landifay, 31. Mai 1940

Ruhetag in Ladifay. Während der Nach träumte ich, weiter im Marsch zu sein.

Am Nachmittag Gang durch die toten Gehöfte und die nähere Flur. Das Wetter war windig und schwül. Ich beobachtete, dass in der vollkommenen Einsamkeit, entfernt von der Truppe, sich bald ein Gefühl der Furcht einstellt. Las Briefe, besah Bilder in den verlassenen Wohnungen, gleich Dokumenten einer vergangenen Kultur.

Im Schlosse stiegen Flieger ab, um für einen Stab Quartier zu machen. Sie kommen von Boulogne, wie mir ein Major erzählte, mit dem ich mich unterhielt. Ich hörte von ihm Einzelheiten, die für einen alten Kenner der Materialschlacht erstaunlich sind. Die grossen Schranken von damals, wie die Somme, Verdun und Flandern, haben sich dem Gedächtnis so fest eingeprägt, dass man befestigte Stellungen allzu leicht für unbezwinglich hält. Inzwischen scheint bei dem ewigen Wettlauf von Feuer und Bewegung das Feuer wieder ins Hintertreffen geraten zu sein, und zwar derart, dass die schnellen Verbände oft weit vor der Infanterie operiert haben. So machte der Major einmal etwa zwei Tagesmärsche vor der eignenen Infanterie in einem Schloss Quartier und erfuhr dabei von den Schlossherrin, die wohl die deutschen Uniformen nicht kannte, dass die Zimmer schon vorbereitet seien - freilich, wie sich dan herausstellte, für einen englishen Stab, der sich für den gleichen Tag angesagt hatte. Das erinnert an den Siebenjährigen Krieg.

Landifay, 30. Mai 1940

Befehlsausgabe um Mitternacht. Bald darauf Wecken und Marsch über Ebouleau, Marle, le Hérie-la-Viéville. In Marle zogen wir an einem riesigen Weinlager vorbei, aus dem an die Truppen verteilt wurde. Ich liess zwei Flaschen Rotwein abzapfen und bekam eine Flasche Kognak dazu.

Tote Tiere: vor allem Pferde, stark aufgeschwollen, mit mächtig aufgetriebenen Geschlechtsteilen. Blaue, grüne und goldene Fliegen spielen auf ihrem straff gespannten Fell, auch Wespen nagen an ihrer Haut. Sie sterben vor Erschöpfung; man sieht sie, wenn andere Pferde vorüberziehen, sich mühsam auf die Vorderbeine stellen und den Hals erheben, wie zum letzen Appell. Ferner tote Hunde, überfahren oder an der Kette verhungert; Kühe, Hühner, Schafe, sehr viele Kaninchen und Katzen. Einige Male war mir auch, als ob aus dem Innerern verlassener Gebäude das Geschrei von eingeschlossenen Tieren herausdränge.

Quartier in Landifay, in einem leeren Haus.

Tuesday, July 21, 2009

Bucy-les-Pierreponts, 29. Mai 1940

Früh Abmarsch, nach kaum fünf Stunden Ruhe, die wie gewöhnlich noch durch Befehlsempfang, Essensausgabe und mancherlei Geschäfte auf die Hälfte verkürzt wurden. Dazu legten wir heute wieder eine tüchtige Strecke zurück, so dass wie eigentlich neuzig Kilometer mit längerer Pause geschafft haben.

Durch Porcien, Wadimont, Fraillicourt. Das ist die Gegend in der ich 1915 lag, mit ihren Häsern aus weissem Kreidestein, der an den Fenstern und Türen oft von weichen roten Ziegelsäumen sehr schön gerandet ist. Unter dem im Lauf der Jahre verwaschenen Bewurf der Mauern erschienen Wegweiser und Inschriften aus unserer damaligen Besatzungszeit. Ich hatte ein seltsames Gefühl dabei - als ob sie unter Röntgenstrahlen aufleuchteten.

Gleich im ersten Orte, Adon, frische Gräber am Dorfplatz, wo vorgestern eine Feldküche bei Licht Essen ausgab und dabei einem Flieger Gelegenheit zum Abwurf bot. Zweihundertdreissig Tote. Uniformfetzen lagen noch umher.

Der Marsch war anstrengend; die Leute hielten sich gut. Andere mögen im Gefechte dasselbe leisten - doch wie sie nach schwerem Marsch, unausgeruht, ohne ein Wort des Widerspruches, ja selbst der Enttäuschung, den Befehl zum neuen Aufbruch entgegennehmen, das ist ausserordentlich. Schweigend und sehr bescheiden marschieren sie bis an die Grenzen menschlicher Kraft.

Nachmittags in Bucy-les-Pierreponts, einem der typischen Kreidennester, an dessen einzigem erhaltenem Brunnen die Köche und Fahrer viele Stunden nach Wasser anstanden. Auf dem Dorfplatz zwei Kampfwagen, ein kleiner deutscher und ein schwerer französischer mit Namen "Athos", wohl durch einen Leser der "Drei Musketiere" getauft. Ich kroch hinein und musste, wie immer, feststellen, dass mit in diesen Dingern, in denen es nach Öl, Benzin und Gummi riecht, nicht wohl zumute ist.

Spaziergang in den Gärten, in denen sich Hühner, Kaninchen, Schweine tummelten. Auch Kadaver lagen auf den Beeten verstreut. Ich ass dort junge Erbsen und Wurzeln und zog auch Radieschen aus. Wieder fielen ein paar Pferde aus. Ich liess deshalb einen weiteren Wagen zurück.

Am Abend kamen über tausend gefangene Franzosen durch den Ort. Ich unterhielt mich mit einigen; sie erzählten, dass der Krieg für sie zehn Minuten gedauert habe, während derer sie, wie ein Elsässer sagte, von einem deutschen Panzerregiment "fertiggemacht" wurden.

Friday, July 17, 2009

Doumely, 28. Mai 1940


Nach dem Wecken Gang durch die Gärten, in denen die Kaninchen hoppelten, während die Hühner sich schon ein wenig mehr in die Feldmark gedrückt hatten. Man sah sie verschüchtert hinter den ersten Wiesenhecken stehen. Dann Kaffee, und Abmarsch gegen zehn Uhr. Da zwei Pferde lahmten, liess ich einen Gepäckwagen zurück, zum grössten erstaunen des Trossführers, der den Befehl ganz unbegreiflich fand.

Weiter über Villers-sur-Mont, Poix-Terron, Montigny-sur-Vence, während immer die gleichen Bilder uns begleiteten. Leere, wüste Häuser, tote Pferde und auf den Weiden einsames, brüllendes Vieh. Mittagsrast in La Lobbe. Wir stellten einen Tisch auf die Strasse und tranken eine Flasche Burgunder zu der Brühe, die aus den in Boulzicourt gefangenen Hühnern bereitet war.

Abends in Doumley, in einem schon recht anbrüchig gewordenen Haus. Schlief noch im Bett, aber ganz angekleidet und mit den Satteltaschen unterm Kopf.

(Bild: "Pferd auf Hinterbeinen", Leonadro Da Vinci, 1483)

Thursday, July 16, 2009

Boulzicourt, 27. Mai 1940

Um acht Uhr Abmarsch. Überall die Totenstille, die mir bereits in Belgien aufgefallen war. Die Landschaft ist geräumt, und nur Soldaten, die samt ihren Pferden und Wagen auf den Strassen vorwärts streben, sind in ihr zu sehen.

Noch in den Morgenstunden rückten wir in Sedan ein. Die Stadt war stark zertrümmert; grosse Häuser waren durch Bombentreffer niedergestampft, andere ihrer Fassaden beraubt, so dass man wie auf architektonische Querschnitten das Innere von Zimmern und prunkvollen Sälen sah, auch Wendeltreppen, die in der Luft schwebten. In einer Nebengasse, die wir durchquerten, schien es lustig zuzugehen. Man sah Soldaten die Köpfe durch die blanken Sparren der Dächer stecken, andere hingen halb aus den Fenstern heraus. Sie liessen an roten Gardinenschnüren Burgunderflaschen herunterbaumeln, von denen ich, wie ein Fisch, der mit dem Köder abgeht, eine im Vorbeischreiten ergriff: 1937er Châteauneuf-du-Pape.

Wir verliessen die Stadt auf der Strasse nach Donchery, an der ich Nachkommen der berühmten Pappeln, aber auch Ulmen sah. Im Staub zur Rechten lag eine herrliche Angorakatze mit schwarzem, sammetbraun durchstrahltem Pelz, doch wie ein Teppich breitgewalzt, und als ich, um den Anblick schärfer zu erfassen, mich vom Pferde beugte, stieg Aasdunst von ihr auf. In den Gärten glühende Päonien, dazwischen Kaninchen, die am Salat knabberten. Kurze Rast, zum guten Glück bei einem Speicher voll Stiefeln und Decken, aus dem ich unseren Fehlbestand ergänzen liess. Mein Küchenunteroffizier, der eine Zeitlang neben mir marschierte, erzählte mir, dass sein Grossvater 1870, sein Vater 1914 und er jetzt 1940 durch diesen Ort gezogen seien.

Nicht fern von den berühmten Häuschen stand der General am Wege, begrüsste die Kompanie und fragte, während ich im Vorüberreiten meldete, nach meinem Wohlergehen.
"Danke, gut, Herr General. Darf man den hoffen, dass man noch ins Feuer kommt?"
"Sie kommen, Sie kommen - bei Saint-Quentin."

Weiter durch diese erstaunliche Landschaften. In den Dörfern und Städten rauchte kein Herd, kreuzte kein Kind, kein lebendes Wesen unsere Bahn. Oft drückte ich mein Gesicht gegen Fensterscheiben und sah dann in den Zimmern gedeckte Tafeln mit Tellern und Gläsern, doch keine Gäste - das Bild jäh unterbrochener Mahlzeiten. In den Kirchen standen noch die silbernen und goldenen Geräte auf den Altären, und in den Palästen schien das Leben entschlafen wie in Dornröschens Schloss - tot, tot, tot. Sehr merkwürdig war, dass in den Orten lange Reihen von Stühlen den Bordstein säumten, vom einfachen Küchenschemel bis zum prunkvollen Sessel in Rot und Gold - aber alle leer, als sässen Geister darauf. Übrigens fragte ich den einzigen Einwohner, den ich antraf, nach den Vorgängen - er erzählte mir, dass Militär mit Lastwagen erschienen sei, zur Durchführung der Räumung binnen kürzester Frist. Der Maire sei betrunken gewesen und die Unordnung ausserordentlich. Das tröstete mich ein wenig, denn ich erkannte, dass die Bilder die mich bedrücken, in der Natur der Sache liegen und nicht auf uns allein zurückzuführen sind. Die Dinge sind so beschaffen, dass aus dem Haus, das aufgegeben wird, der Nomos schwindet; die Laren und Penaten bleiben nicht zurück. Auf alle Fälle lernt man aus solchem Anblick die mächtige, fast unsichtbare Arbeit würdigen, die durch die Familie geleistet wird.

Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, dass diese dunklen Träumereien mir Genuss bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, dass, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde - ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.

Während des Marsches unterhielt ich mich hin und wieder mit unserem Waffenunteroffizier, der treffende Beobachtungen macht und, als er Sinn dafür bei mir entdeckte, öfters mit dem Rad vorauseilte und wiederkam, gewissermassen um mir Bilder zu apportieren, die er im Fluge erfasst hatte. So meinte er, es sei seltsam, dass man alle Musikinstrumente bestimmt am ersten zertrümmert träfe - das ist ein Symbol für den unmusischen Charakter des Mars, und, wenn ich mich recht entsinne, schon auf dem grossen Bilde von Rubens vermerkt, das dem Thema "Mars und die Musen" gewidmet ist. Die Spiegel dagegen seien meist unbeschädigt - er erklärte das daraus, dass man sie zum Rasieren brauche; es hat aber wohl noch andere Ursachen. Zur Dämonologie gehört, dass sich trotz der Eile des Vormarsches immer Leute finden, die sich die Zeit nehmen, in den Fenstern der verödeten Häuser absurde Gegenstände zur Schau zu stellen - ausgestopfte Vögel, Zylinderhüte, Büsten Napoleon III., Probierpuppen und ähnliches.

Am Wege zerschmetterte Flugzeuge, von denen eines, hinter Sedan, auf ein Dach gefallen war, das es mit seinen Flügeln umklammert hielt. Im Aufschlag hatte es nicht nur das Haus verkohlt, sondern auch das Grün der Bäume, die es umringten, im weiten Umkreis fahl und dürr gebrannt. In einem Waldstück Tanks, daraus Leichengeruch.

Am Frühen Nachmittag in Boulzicourt, dort Quartier. Besprechung in einem Garten; ich fand die Gesichter der Offiziere ausgeprägter, die Physiognomien wie ausgeschmolzen, aus geläutertem Erz. Als ich auf dem Rückweg in der Dämmerung über den zertrümmerten Martplatz kam, geriet ich in eine Art von Maskenball. Leute mit Zylindern, Strohhüten, Mützen von Eisenbahnbeamten und Tropenhelmen fuhren Karussell auf Motorrädern und Autos ohne Reifen, die sie notdürftig in Gang gebracht hatten. Dazu die Häuser mit zerfetzten Fensterläden, die Türen mit Warnungen wie "Im Keller Leichen" oder "Achtung, Minen" - angeschrieben wahrscheinlich von solchen, die ihr Quartier gern für sich allein hätten. Ferner ein Schlachterladen, auf dessen Blöcken und Bänken noch das Fleisch in Massen lag; ein schrecklicher Dunst drang durch seine roten Gitter hervor.

Ins Quartier, über eine kleine Brücke, an toten Pferden vorbei. Andere Tiere liegen in den Gärten, so eine grosse Dogge mit gelbem, von der Sonne des heissen Tages aufgeblähtem Fell.

In meinem Zimmer trank ich noch die Flasche Châteauneuf-du-Pape und dachte dabei an Burckhardt, dessen Lieblingswein das war. Man kann sagen, dass seine Befürchtungen sich erfüllt haben. Dazwischen blätterte ich in Papieren, die der Besitzer allen Anschein nach zusammengerafft und in der Eile doch vergessen hatte, so in seinem Ehekontrakt.

Wednesday, July 15, 2009

Givonne, 26. Mai 1940


Um fünf Uhr Abmarsch über Bertrix und Fays-les-Veneurs. Wieder die starken Zerstörungen. Die Einwohner scheinen in grösster Eile aufgebrochen zu sein. Oft sieht ein Haus von aussen noch sehr gut und wohnlich aus, doch wenn man durch die Fenster blickt, entdeckt das Auge den Stempel der Verlassenheit und äussersten Unordnung. Die Kühe stehen mit überfüllten, geschwollenen Eutern auf den Wiesen, von denen ihr klagendes Brüllen herübertönt. Nur auf den Strassen ziehen die Truppen, sonst sieht die Landschaft in ihrer Ausgestorbenheit und Menschenleere gespenstisch aus. Bald nachdem wir angetreten waren, kam der General vorbei, und wir erfuhren, dass wir heute statt Buillon, wohin wir die Quartiermeister entsandt hatten, noch Givonne erreichen sollten. Das war der zweite derartige Eingriff in unseren Marsch.

Im Walde vor Fays-les-Veneurs begegneten wir einer Kolonne von über viertausend Gefangenen, fast nur Farbigen, die gleich einer Kostüm- und Völkerschau an uns vorbeizogen. Auch einige Europäer waren darunter, die meisten mit Weltkriegsorden und schon weissem Haar. Nach einem Platzregen hielten wir auf einer feuchten Wiese Mittagsrast.

Während des ganzen Nachmittags marschierten wir durch ausgedehnte Ardennenwälder bergauf, bergab. Über die französische Grenze – da ich in Abwesenheit des Kommandeurs gerade das Bataillon führte, sandte ich einen Melder zurück, um Spinelli das „Ran wecke!“ aufzutragen. Am Wege immer wieder ausgebrannte Autos, abgeschossenen Flugzeuge, Gräber, Hausgerät. Die Wagen der Flüchtlinge glichen Schiffen; man sieht das Strandgut, wo sie gescheitert sind. Auch tote Pferde – bei einem ganz von Fliegen bedeckten, an dem wir vorbeikamen, meinte ein Melder: „Der kocht schon von innen“ und traf damit sehr gut den Zustand, in dem es sich befand. Zwischen dieses Chaos hindurch ziehen sich bereits die starken Kabel, an denen hin und wieder kleine Schilder hängen, die jeden, der sie beschädigt, mit dem Tode bedrohen. Es sind die Nervenstränge der Armee. Bei einer der Rasten besah ich ein kleines Werk, das, wohl um Panzerwagen aufzuhalten, gut eingebaut an einem Knick der Strasse lag. Die zierlichen Geschütze lugten noch durch die Scharten, Haufen von Hülsen waren um sie verstreut. Dann in den Stellungen, die das Werk umringten, bis plötzlich der Gedanke, dass Minen vor ihnen liegen könnten, mit das Studium verleidete.

Durch Bouillon, das eine alte Bergfestung überragt. Inmitten der Stadt zertrümmerte Häuser, niedergeworfene Strassenzüge, besonders rings um die alte Brücke in ihrem Kern. Leute kamen mit Weinflaschen vorbei; ich entsandte Rehm mit dem Fahrrad, um die Quelle aufzuspüren; er kam mit einigen Bouteillen Burgunder zurück. Wie er erzählte, war er in einem Heeresmagazin gewesen, in dessen Keller eine stark angeheiterte Gesellschaft beisammen sass. Überhaupt ist die Vormarschstrasse von Sekt-, Bordeaux-, und Burgunderflaschen gesäumt. Ich zählte wenigstens eine auf den Schritt, abgesehen von den Lagerplätzen, die aussahen, als ob es Flaschen geregnet hätte. Das gehört ja wohl bei einem Feldzug in Frankreich zur Überlieferung. Jeder Einmarsch germanischer Heere ist von einem Tieftrunk begleitet, wie ihn die Götter der Edda taten und dem kein Vorrat gewachsen ist.

Quartier in Givonne, mit Massenunterkunft im Schloss. Im Ort starke Verwüstungen; oft waren an den Stellen, an denen die Häuser gestanden hatten, nur ungeheure, mit gelben Wasser angefüllte Trichter zu sehen. Im Park frische Gräber deutscher Sanitätssoldaten, die dort durch Bombentreffer gefallen sind. Das Auto des Besitzers liegt, die Räder nach oben, im Schlossteiche. Ich schlief im Kinderzimmer neben einem Regal voll Bücher auf dem Boden und blätterte vorm Einschlafen noch in den Schulheften.

(Bild: Givonne, Postkarte, vue générale, um 1930)

Tuesday, July 14, 2009

Neufchâteau, 25. Mai 1940

Am Morgen Abmarsch über Martelange. Dort war die Brücke zerstört, auch viele Häuser, wohl infolge von Sprengungen. Hier und dort sah man die Bauern schon wieder auf den Feldern arbeiten. Ists Zuversicht, ist es insektenhafter Trieb, was den Menschen so unverdrossen inmitten der Vernichtung zum Werke zwingt? Indem ich dies notiere, erhebt sich in mir die merkwürdige Replik: "Du führst ja auch Tagebuch."

Bolanges, Fauvillers, Vitry. Auf diesem Wege Spuren von Kämpfen zwischen Aufklärungsarbeiten, sehr übersichtlich, wie für einen taktischen Spaziergang aufgebaut. Man sah Häufchen von Hülsen an den Stassenrändern, daneben Gräber, dann Spuren von Panzerwagen, die sich auf den Feldern entwickelt hatten und von denen einer im Feuer geblieben war, und endlich eine Stassensperre, wieder mit Gräbern und belgischen Stahlhelmen darauf.

In Traimont Mittagsrast. In einem Häuschen, aus dessen Brunnen ich Wasser holen liess, lud mich der Besitzer zu einer Tasse Kaffee ein. Ein Bauer von sechsundsiebzig Jahren - sagte übrigens septante-six statt soixante-seize. Hatte drei Kriege gesehen, besitzt drei Hektar Land, dazu Sohn, Schwiegertochter und sieben Enkelkinder. Ich gab den Kleinen, die sehr zutraulich waren, Geld für die "tirelire".

In Neufchâteau schlugen wir am Stadtrand Zelte auf. Die Stadt machte einen anarchischen Eindruck. Der grösste Teil der Einwohner ist geflüchtet, die Häuser stehen leer, der Hausrat ist zusammengeworfen. Ich teilte Nachtstreifen zur Aufrechterhaltung der Ordnung ein und unterrichtete die Mannschaft nochmals darüber, dass kein Grad der Zerstörung Übergriffe in Dingen des Eigentums rechtfertigen kann. Zur Veranschaulichung liess ich Stroh, dass ich für die Zelte aus einer nahen Scheune beigetragen hatte, vor der Front durch den Rechnungsführer schätzen und seinen Preis der Besitzerin sogleich bar auszahlen.

Der Eintritt in solchen Zonen wirkt immer lockernd - das merkte man auch bei der üblichen Befehlsausgabe, bei der wegen irgendeiner Pferdesache ein Wortwechsel zwischen den Offizieren entstand. Ich war neugierig, wie der Kommandeur sich verhalten würde. Er beschränkte sich darauf, zu sagen: "Meine Herren, wir wollen doch Kavaliere bleiben, sonst kommen wir nicht weit." Der kleine Satz wirkte gut, gleichsam aufweckend.

Gegen zwei Uhr morgens Flakfeuer im Ort, doch keine Abwürfe. Tagsüber, wie immer, nur deutsche Maschinen.

Monday, July 13, 2009

Rambruch, 24. Mai 1940

Über Rollingen und Reckingen, mit dem Marschziel Hemstert in Belgien. In Säul erschien jedoch der Regimentskommandeur mit dem Befehl, rechts einzudrehen und Rambruch zu erreichen - offenbar eine Bewegung operativer Art.

Mittagsrast auf einer Wiese bei Ospern. Das Essen war wie immer pünktlich fertig und gut gekocht, da die Köche Tag und Nacht fast ohne Pause arbeiten. Beim Abmarsch liess ich daher den Schützen Rumke von der Küche holen und vortreten, worauf ich ihn, mit der Begründung, dass die Linsensuppe wieder vorzüglich geschmeckt habe, zum Gefreiten beförderte. Da dieses Argument noch einem jeden aus frischer Erfahrung einleuchtete, rief es grossen Beifall hervor.

Wir marschierten durch die angenehme luxemburgische Weidenlandschaft bis Rambruch; dort lag ich in einem kleinen Café im Quartier. Besitzer war ein dicker, gemütlicher Mann, etwa dreissigjährig, vom flämischen Typ. Wenn es nur solche gäbe, hätte man keine Kriege, doch ununterbrochene Zechgelage auf dieser Welt. "Jungs, ihr trinkt doch kein Wasser?" begrüsste er, gelich Bier eingiessend, vier junge Arbeiter, die bei ihm eintraten.

Lintgen, 23. Mai 1949

Abmarsch wie gewöhnlich. Beim Verladen der Waffen schnappte ich die Antwort eines Unteroffiziers auf, dem ein Fahrer widersprach:
"Es wäre mir lieber - - - -"
"Halten Sie den Mund! Lieber wäre es mir, wen ich hier eine Badeanstalt hätte."

Bei Echternach über die luxemburgische Grenze, deren Überschreiten ich mit einem "Ran wecke!" markieren liess. Das erste Haus an der Grenze war durch die Sprengung des Brückenhindernisses zerstört. Vor den Fenstern hingen die Jalousien herab. Hinter dem sehr sauberen Ort an der Strasse wieder einige Trichter; hier hatte man wohl eine Sperre gesprengt. Durch Altrier. Mittagsrast in einem kleinen Hofe, dort Unterhaltung mit dem Besitzer, einem Jagdhüter. Es fiel mir an diesem Manne, wie an den meisten Luxemburgern, die gewählte Sprache auf. Das liegt wohl daran, dass, statt wie gewöhnlich Luxemburger Platt, bei solchen Begegnungen Hochdeutsch nach dem Buche gesprochen wird. Auf diese Weise gewinnt man den Eindruck, dass der Rede Überlegung und sorgfältiges Bemühen vorangegangen sind - und entsprechend, dass sie an aufmerksame, nachdenkende Wesen gerichtet ist.

Starker Marsch nach Lintgen, dort bei einem Bäcker im Quartier. Der Ort war überfüllt von Soldaten und Flüchtlingen. Auch bei meinem Bäckermeister traf ich vertriebene Luxemburger an. So unterhielt ich mich beim Abendessen mit einer fünfzigjährigen Frau, die , wenn ich den Namen recht verstand, in Düttweiler gewohnt hatte, wo der Vormarsch auf die französische Grenze gestossen war. Sie hatte sich bei den Gefechten, die dort entstanden waren, in den Keller begeben und darin ein paar Tage verbrachte, während Granaten ihren Garten verwüsteten. Eine von ihnen riss den Erker ihres Hauses ein, eine andere fällte den alten Apfelbaum. Splitter durchsiebten das Dach, die Hühner lagen mit abgeschlagenen Köpfen im Hof, die Schweine entliefen aus dem zerstörten Stall; das Bett, das sie im Keller aufgestellt hatte, wackelte. Dies alles erzählte die derbe Person, die sich derlei gewiss selbst in ihren tiefsten Träumen niemals hatte einfallen lassen, mit Heiterkeit, fast lachend, oder vielmehr mit einer starken inneren Fröhlichkeit, die mich lebhaft ergriff. Übrigens hatte sie noch bleiben wollen, wir hatten indessen den Ort geräumt.

Auf dem Marsch erfuhr ich durch Urlauber, dass die Werke von Missburg, ganz nahe bei Kirchhorst, durch Bomben getroffen sind. Ich dachte dabei an Perpetua, die Kinder, meine Sammlungen und Manuskripte, die dort unter dem Dachboden lagern, ohne dass ich der Lampe Nigromontans schon würdig bin. Das ist in der Tat der totale Krieg, während dessen man an jedem Punkt der Existenz gefährdet ist.

Friday, July 10, 2009

Welschbillig, 22. Mai 1949


Wieder in aller Frühe Wecken, dann Marsch über Fell und Longuich durch das Moseltal, am Fusse der mächtigen, auf das sorgfältigste bestellten Weinberge entlang. Ich hatte dabei den Eindruck letzter Ausgeformtheit, der sich durch den Anblick der Brücken, der Bauten und der vor den Häusern stehenden Einwohner noch steigerte. Dazu Namen wie Dezem und Quint. Mir kamen die schönen Verse des Antonius in den Sinn. Hier ist unsere romanischste Ecke, abgesehen vom Südtirol. Die Wahl der Striche, in denen die Römer siedelten, hing nicht vom Zufall ab. Wir Menschen sind Wesen mit unsichtbaren Wurzeln, die überall zu leben wissen; Gedeihen aber bringt und nur der angemessene Ort.

Das Wetter war drückend, schwül; diesmal gab es weniger Fuss- als Magenkranke, dazu Erbrechen, Nasenbluten, Kopfschmerzen, Übelkeit. Nachdem wir in der grellen Sonne eines Steinbruchs in der Nähe von Ehrang Mittagsrast gehalten hatten, verspürte ich Schmerzen im Nacken und bestieg den braven Justus, der schlecht und recht dahinstolperte.

Während des Marsches erfuhren wir in den Dörfern und kleine Städten durch Lautsprecher von den gewaltigen Erfolgen des Angriffs, von denen ich, dem die ungemeine Zähigkeit der Fronten durch hundertfache Erfahrung zu einer Art von Dogma geworden ist, besonders überrascht wurde. Dieser Krieg weicht eben in allen Einzelheiten vom Schema des verflossenen ab, an das ich meine Gedanken daher nicht länger heften will.

Unterkunft in Welschbillig. Ich wurde hier in einem Hause, das auf römischen Grundmauern steht, bei einem Bauern einquartiert. Nachdem ich ein wenig geschlafen hatte, schickte mein Wirt mir durch Rehm eine Schüssel von Bratkartoffeln mit eingemachtem Rindfleisch, die zur Sättigung von drei Holzfällern genügt hätte. Das Verhältnis des Quartierwirts zum Soldaten ist ein besonderes, insofern es, ähnlich dem heiligsten Asylrecht, noch zu den Formen der uralten Gastfreundschaft zu rechnen ist, die man ohne Beziehung auf das Individuum gewährt. Der Krieger hat das Anrecht, in jedem Haus zu Gast zu sein, und dieses Vorrecht zählt zu den schönsten, die ihm sein Stand gewährt. Er teilt es einzig mit dem Verfolgten, dem Leidenden.

(Bild: Historische Karte der Mosel, 1646)

Wednesday, July 8, 2009

Bescheid, 21. Mai 1940


Um drei Uhr Wecken, das mir Einblick in einen ausgesuchten Traum gewährte - ich unterhielt mich über den Stil von Cassiodor, und zwar mit einem ritterlichen Jäger des frühen Mittelalters, der ein feiner Kenner der Alten war. Dabei bereitete es mir im Gespräch keine Mühe, dass ich einmal ein Zeitgenosse des Autors, dann des Jägers und endlich des 20. Jahrhunderts war. Ich blickte wie durch ein Glas, in dem drei Farben sich vereinigten. Trotz der frühen Stunde erwachte ich sehr glücklich in der Erkenntnis, dass der Humus, aus dem mir das Wort erwächst, noch reich an unerschöpften Möglichkeiten ist.

In köstlicher Morgenfrische durchs Idartal, in dessen grünen Gründen die kleinen Achatmühlen nisten, baufällig und eingesponen wie Sitze der Alchimisten oder der Venediger. Man ahnt bei ihrem Anblick, dass sich hier das Handwerk zu hoher, magischer Stufe emporgeschwungen hat. Neben mancher von ihnen lagerten in Haufen die grauen, kindskopfgrossen Achatknollen. Edelsteinmühlen. Wo die Schätze gewaltig werden, verliert sich ihr Verhältniss zu Gelde; sie treten in eine höhere Ordnung der Kostbarkeit.

Dann bei steigender Hitze durch die Wälder des Hunsrück, über die Geschwader auf Geschwader nach Wetsen zog. Mittagsrast in Talling; hier erquickte mich eine Bäuerin mit einem Glas Buttermilch. Als endlich nach starkem Marsche die Quartiere an die Kompanien verteilt wurden, erhielt ich für die meine das Dörfchen Bescheid, das auf einem hohen Berge liegt. Zuvor wurde das Gepäck abgeladen, da wir den Tross im Tal zurücklassen mussten; und um die Mannschaft ein wenig zu ermuntern, nahm ich mit meinen beiden Offizieren drei recht gut gepackte Tornister auf. In dichten Staubwolken brach auf den steilen Schlangenpfaden der Schweiss in Strömen aus. Dennoch war dieser Marsch vielleicht das beste Mittel gegen meinen Katarrh, denn als wir auf dem Gipfel ankamen, fühlte ich auf der Brust Erleichterung. Ich übernachtete in einem kleinen Hause, in dem jedes Zimmer mit schönen Kupferstichen behangen war. An den Bildern erkennt man den Wert einer Einrichtung; sie sind die Siegel des Geschmacks.

(Bild: Illumination einer Handschrift des Codex Amiatinus. Man nimmt an, sie stelle Cassiodor dar.)

Idar, 20. Mai 1940


Ruhetag in Idar. Am Vormittag in der Gewerbehalle, einer Art von Handelsmuseum, in dem Halbedelsteine in Hülle und Fülle zur Schau stehen. Besonders gefiel mir ein schalenartiger Schliff durch einen grossen Amethystenblock mit eingesprengten Achaten, derne Prunkaugen aus dem violetten Kristallschnee aufblühten. Zugleich empfand ich die eigentümliche Beängstigung, wie sie uns die Nähe der Gesteinswelt mit ihren Höhlen, Grotten und Schächten mitzuteilen pflegt, in denen der Geist, wie durch Zaubersprüche tief eingeschlossen, in kalter Schönheit in Fesseln liegt.

Während des ganzen Tages summten die Flugzeuge, wohl Transporter, über den Talkessel hinweg. Am Abend tranken wir auf der Terrasse eine Erdbeerbowle im Vollmondschein.

(Bild: Idar-Oberstein um 1875, van Prouyen)

Idar, 19. Mai 1940


Wecken um Mitternacht. Der Pfarrer empfing uns noch zu einer Tasse Kaffee in seinem Studierzimmer, in dem er die Predigt für den Sonntag vorbereitete. Da ich in den letzten Monaten viel in Pfarrhäusern lebte, gewann ich ein Organ für den atmosphärischen Unterschied in den evangelischen und den katholischen. Dergleichen lernt man nicht aus Geschichtsbüchern. Bei den Protestanten hat man auch das Gefühl von kleinsten Teilchen, die durch eine magnetische Anstrengung in der Schwebe gehalten sind. Es ist auch der Unterschied von alter und Leistungsaristokratie. Gedanken über das Unvermeidliche der Reformation. Man muss sich bemühen, das in der Einheit zu begreifen - so wie bei einem Wagen, wenn die Steigung wächst, ein zweiter Gang zur Wirkung zu bringen ist. Der Antrieb wird ethischer. Nichts spricht dagegen, dass es im weiteren Verlaufe zu einer Kirche kommt, zur Organisation der Christenheit.

Marsch über Wolfstein, Oberjeckenbach und den Truppenübungsplatz Baumholder mit seinen ausgestorbenen Siedlungen, dann über Bollenbach bis Idar-Oberstein. Hier sollten wir zunächst bei Tiefenstein biwakieren, wurden nachmittags aber im Städtchen einquartiert. Beim Abmarsch traf eines der Pferde den Leutnant Wanckel mit dem Huf in die Leistengegend; wir mussten ihn forttragen.

Wir kamen oben auf dem Berg bei einem Fabrikanten unter, der sich als heilkundig erwies und mir gegen meinen Katarrh einen guten Umschlag bereitete. Beim Abendessen Unterhaltung über Halbedelsteine, deren Handel und Verarbeitung am Orte blühen. Bereits die Römer unterhielten hier Achatgruben, und wie unser Quartierwirt sagte, bewahrten sich in Idar römische Familiennamen aus jeder Zeit. In der Tat sah ich beim Einrücken das Firmenschild eines gewissen Cäsar, der zum Überfluss noch den Vornamen Julius trug.

(Bild: Wappen Idar-Oberstein, Rose-Forsthaken-Eichel)

Grumbach, 18. Mai 1940


Über Lauterecken nach Grumbach, das lieblich in Obsthänge eingekesselt liegt. Ich wurde mit den Offizieren beim Pfarrer untergebracht.

Unser Tageslauf regelt sich jetzt so, dass wir bei Anbruch der Dunkelheit abmarschieren und bis zum Vormittag auf den Strassen sind. Dann Schlaf bis in den Nachmittag, Essen, Gewehrreinigen, Fussappell und Empfang des neuen Marschbefehls.

Ich bin unter dem Dach in einem Kämmerchen einquartiert, mit schönem Ausblick auf blühende Wiesen und Kastanien. Unter dem Mobiliar fällt mir ein abgenutzter Waschtisch mit schwarzer Marmorplatte auf, in der neben hellen Korallengliedern auch eine Muschel von der Grösse eines Hühnereies versteinert ist, im feinen Querschliff, der die hohen Rippen des Kammes gleich Stacheln und das Schloss gleich Zacken trägt. Das kleine Phänomen war, wie ich nachher beim Abendessen erfuhr, noch nicht beachtet worden, obwohl der Tisch seit Jahrzehnten im Hause steht.

(Bild: Grumbach um 1890)

Kaulbach, 17. Mai 1949

Wieder ein tüchtiger Nachtmarsch durch die Hardtberge über Hochspeyer, Kaiserslautern, Otterberg nach Kaulbach. In Kaiserslautern fragte ich bei einer Stockung einen Luftschutzposten nach dem Weg. Dieser, ein älterer Mann, hatte sich dann wohl bei der Mannschaft nach mir erkundigt, denn nach einer Weile kam er mir nachgeeilt und stellte sich mir als Leser vor. Er brachte eine Flasche sehr guten Pfälzer Weines mit und überreichte mir ein Glas, das er, indem er mich eine Strecke geleitete, nicht leer werden liess. Diese Begegnung in der Finsternis hatte etwas Eigentümliches, Geistiges. Ich fühlte, dass man als Autor auch in der Dunkelheit zu Hause ist.

Dann Rast in einem Buchenwald, an dessen Rand die Äste bis auf den Boden hingen und Zelte bildeten, under denen wir vespertem. Hinter Otterberg ein totes Pferd am Wegrand - der erste Verlust. Unterkunft in Kaulbach, wo wir in einem Bauernhof bis tief in den Nachmittag schliefen und dann bei einem kleinen Festmal Keuneckes Geburtstag feierten.

Wir marschierten also in westlicher Richtung durch die Pfalz und bewegen uns entweder auf die grosse Schlacht oder auf eine der geplanten Aktionen zu. Auch wächst, je weiter wir vormarschieren, die Möglichkeit, dass wir links abgedreht werden. Es geht mir dabei fast wie 1914, wo ich befürchtete, nichts mehr von den Gefechten abzubekommen.

Tuesday, July 7, 2009

Weidenthal, 16. Mai 1940


Nachtmarsch von Speyer nach Weidenthal. Während wir Neustadt an der Hardt durchschritten, kündeten die Sirenen Fliegeralarm, ohne dass es jedoch zu Abwürfen kam, die uns in den engen Strassen zu schaffen gemacht hätten. Der Marsch war angreifend. Wie immer bei solchen Anstrengungen traten verborgene, bis dahin unbekannte Talente hervor, so in der ersten Gruppe hinter mir, in der sich viel Witz entfaltete. Gegen sieben Uhr rückten wir in die Quartiere ein. Nach gutem Schlummer ging ich zur Post und sandte meine Manuskripte und Tagebücher nach Kirchhorst. Ich führe nur noch dieses Heftchen mit. Zum Abschied ass ich mit meinen beiden Offizieren, Keunecke und Spienlli, recht gut beim Bürgermeister, bei dem wir zu dritt gewohnt hatten. Die Bürgermeisterin bereitete uns am Tische den Salat.

(Bild: Wappen von Weidenthal, Bischofsstab)

Speyer, 15. Mai 1940


Gegen Abend marschieren wir in guter Stimmung über Graben ab. Die Friedrichstaler hatten uns und die Pferde reich mit Blumen geschmückt und gaben uns noch bis in die Hardt Geleit. Wir schieden ungern von den guten Leuten, sie hatten uns verwöhnt. Dann brach die Dämmerung herein. Wolken von Maikäfern schwirrten über den Waldwegen oder kreisten um die schon fast kahlen Apfelbäume an der Landstrasse. Wie uns bei solchen Gelegenheiten fast immer eine kleine Beeinträchtigung stört, so war es diesmal ein Katarrh, der mich plagte; ich führe daher Emser Pastillen mit. Nach gutem Marsche kamen wir gegen Morgengrauen in Speyer an.

(Bild: Wappen von Speyer, Dom-Ansicht)