Wednesday, November 19, 2008

Bei Greffern, 11. November 1939


Am 6. November, um zwei Uhr morgens, fuhren wir von Bergen ab. Der dunkle Trubel, der beim Verladen üblich ist, berührte mich wie eine erste Wiedergeburt der Dinge aus dem Weltkriege. Sehr deutlich flog mich dabei auch ein Schauer, ein Strahl von kalter Dämonenarbeit, an, besonders beim Klirren der Hämmer und Ketten, das durch die Eisluft schnitt. Der Atem, der in weissen Wölkchen, wie Watte, vorm Munde der Menschen, vor den Nüstern der Tiere stand. Jetzt scheuen vor einer Küche die Pferde, dass die Funken stieben, und emsig bildet sich ein schwarzes Grüppchen, um auszuspannen und sich vorzuschirren - Ameisen, die mit der Bergung ihrer Güter und ihrer Symbionten beschäftigt sind. In solchen Augenblicken sieht man ein wenig schärfer, wieviel an Trieb im Leben ist.

Gedanke: die bleichen Eintagsfliegenschwärme, mit deren Körpern der Weltmechanikus die Achsen schmiert. Sie klatschen an das kalte Eisen an.

Im Abteil, in das meine neue Ordonnanz, Rehm, mir zwei Decken bringt. Seine Haltung ist gut, die eines Mannes am Schluss einer strammen und angestrengten Ausbildung. Wenn ich ihn anspreche, legt sich sein Kinn in Falten, indem es die Halsbinde sucht, und sein Gesicht nimmt Züge der Versteinerung an. Die Mittelfinger zeigen senkrecht nach untern, die Handteller sind scharf durchgedrückt, ohne Schwalbennester, wie sie sich bilden, wenn die Disziplin ihre Frische verliert. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden kommt er in gewissen Abständen mit Kaffee, warmer Kost und Brot. Ebenso erscheinen der Hauptfeldwebel und der Kompanietruppenführer; beide rufen einen guten Eindruck hervor. Der Kompanietrupp, ein im Weltkriege noch unbekanntes Organ, erleichtert auf angenehme Weise die Verwandlung der Befehle in Aktion.

Ausser mir ist Spinelli im Abteil, meine rechte Hand, der einzige Kompanieoffizier. Er verfügt über eine schöne Sicherheit, etwas amerikanisch, wie die jungen Leute, die man in den Filmen vor bedenklichen Abenteuern sieht, denen sie indessen durchaus gewachsen sind. Ich sehe ihn eine Reihe Anordungen treffen, die sich zum Teil auf seinen Zug, zum Teil auf seine eigene Bequemlichkeit beziehen; er fühlt sich dabei ganz offenbar in seinem Element. Vor allem ist er mir angenehm.

Schlafend, frühstückend, uns unterhaltend oder lesend durchqueren wir Deutschland in westlicher Richtung. Zuweilen wird Essen ausgegeben, zuweilen tauchen junge Mädchen mit Tee oder Kaffee vor den Fenstern auf. So kommen wir in der nächsten Nacht gegen zwei Uhr in Pforzheim an.

Die schmale Sichel des Mondes, Orion funkeln über dem Schienenstrang. Während wir auf Befehle warten, schiesst plötzlich, gleichsam eiskristallisch, ein unerwarteter Gedanke an: wie unermesslich die Fixsternwelten auch hinter den bewohnten Räumen liegen - im Augenblick des Todes eilen wir über sie hinaus. Es gibt Sekunden, in denen unser Geist die Lichtjahrfernen überwinden wird, vor deren Abgrund er erschrickt. Ihm stehen unerhörte Fahrten noch bevor. Die Abenteuer dieser Erde sind nur Symbole des letzten, grössten - sie spielen in den Vestibülen und Brandungsgürteln der dunklen, fürchterlichen Majestät.

Endlich kommt unsere Order, und ihr entsprechend marschieren wir nach Höfen an der Enz, wo wir am Morgen eintreffen. Die Kompanie wird auf die Häuser und Höfe aufgeteilt, und ich beziehe mit Spinelli eine schöne Besitzung am Hange, in der uns Frau Commerell mit einem Frühstück aufwartet. Sehr müde legen wir uns in die weichen Betten, aus denen uns nach einer knappen Stunde eine Ordonnanz aufstöbert. Spinelli soll sogleich ein Vorkommando an den Westwall führen, und mir werden die drei Schützenkompanien, die in der Nacht den Schwarzwald überqueren sollen, unterstellt. Mit Anordungen und Vorbereitungen verfliesst die Zeit, und erst am späten Nachmittag finde ich zu kurzer Ruhe Gelegenheit. So nimmt man den Schlaf in Prisen ein. Bei Commerells zum Abendessen: Forellen, durch die Kunst der Köchin lichtblau gesotten und schön dressiert, also ob sie schwimmend mit gespreizten Flossen sich im Wasser schlängelten. Nachher im Sofa ein Glas Burgunder; Unterhaltung mit dem Hausherrn, und zwar über Pilze, insbesondere die Erdsterne und unterirdische Arten, die sich um Wurzelgeflecht bestimmter Bäume ansiedeln. Es ist immer sehr schön, wenn jemand neben seinem Metier ein Gebiet seiner Vorliebe in vollkommener Weise beherrscht - das gibt eine Idee vom Luxus dieser Welt. "Ererbter Reichtum verpflichtete mich zu besonders sorgfältigen Studien" - so ähnlich heisst es an einer Stelle bei Poe.

Nach Mitternacht werde ich durch Rehm geweckt und finde unten Brote und eine Thermosflasche voll Kaffee vor. Um zwei Uhr Abmarsch. Gleich hinter dem Orte, in der Richtung auf Dobel, bedeutende Steigungen. Obwohl alle Vorkehrungen getroffen, insbesondere Stollen auf die Eisen geschraubt und Schiebekommandos eingeteilt worden sind, geraten die nur an die Tiefebene gewöhnten Pferde sogleich in Schweiss. Sie schnauben und strömen trotz der warmen Föhnluft, die durch die Täler streicht, Dampfwolken aus. Ich lasse häufig halten, eindecken und auch zuweilen tränken, wobei darauf zu achten ist, dass Häcksel auf dem Wasser schwimmt, damit die Tiere nicht zu hastig den Durst löschen. Die Fahrer müssen absitzen, die Beifahrer grosse Knüppel hinter die Räder legen, damit der Wagen im Zurückrollen die Tiere nicht unnütz beschwert. Die Nacht verfliesst mit Pausen und Antreiben. Bei Herrenalb beginnt es zu tagen - die Felsen steigen dort senkrecht wie hohe graue Orgelpfeifen auf und sind von einem kupferroten Buchenwald gekrönt. Ich lasse Fliegermarschtiefe bilden und die Maschinengewehre freimachen.

Indessen wird es Zeit, dass ich mich mit den Quartieren beschäftige, auch ist in der Unterkunft der Luftschutz aufzubauen - Ich reite daher nach Gernsbach vor. Unterwegs überholt mich im Auto der Divisionskommandeur, General Vierow, den ich kennenlerne, indem er meine Meldung entgegennimmt. Er spricht mir seine Unzufriedenheit über den Zustand der Pferde aus, wird dann aber umgänglicher und erwähnt, dass er in Wünsdorf die Lehrerkompanie führte, als ich dort in der Vorschriftenkommision war. Offenbar zehre ich bei dieser Gelegenheit vom angesammelten Schatz der Verdienste, von denen ich indessen, wenn möglich, lieber einen neuen Vorrat anlegen will. Als Lehrlinge dürfen wir nicht altern, müssen immer sechzehn sein.

In Gernsbach verfliesst der Tag wie der vorige. Ich liege mit Rehm bei einem Arzt im Quartier. Seine Gattin, eine sehr angenehme Frau, erweckt in mir die Vorstellung, dass ich sie schon einmal gesehen habe - ein Empfinden, das sich wohl eher auf den Habitus als auf die Person bezieht. Nachher trotz der Erschöpfung unruhiger Schlaf, mit einem Wirbel von Traumbildern. Ich hörte eine Stimme rufen: "Das Nichts hat seinen Maskenball" und antwortete: "Legt rote Schminke auf". Erwachend sehe ich, dass die Stunde schon vorgeschritten ist, und finde Rehm, der mich wecken sollte, im Tiefschlaf, schwer atmend, wie betäubt. 

Beim Abmarsch bildet sich in den engen Gassen eine Stockung, die viel Zeit verschlingt. Am Ausgang stürzt ein Handpferd in eine Schlucht. Wir marschieren über Lichtental, Malbach, Neuweier nach Steinbach, einem Ort in der Rheinebene. Hier erwachen die Farben - besonders leuchted in den Maiskolben, die man gelb und rot am zarten Bast ihrer umgestülpten Hüllen unter den Regendächern hängen sieht. Ihr Anblick flösst ein Gefühl des Überflusses ein, gleich Weizenähren, wie sie Gulliver im Land der Riesen sah. Neben ihnen trocknen Tabakblätter in braunen Büscheln aus.

In Steibach ist eben zum Mittagessen Zeit, dann fahre ich, um meinen Abschnitt zu übernehmen, an den Westwall vor. Es dunkelt und beginnt zu regnen, ehe ich den Bunker finde, in dessen Sommerlaube mich der Hauptmann Zink empfängt. Er übereignet mir an einem Tisch, auf den der Regen tropft, ein System von Bollwerken, mit dessen Feuerkraft sich eine Division im Angriff aufhalten lässt.

Nach Mitternacht trifft, ganz durchnässt, die Turppe ein. Die Gruppen werden durch Führer zu ihren Werken gebracht. Ich ziehe mit dem Kompanietrupp in unseren Bunker, der zwanzig Pritschen fasst, und habe, da es nicht leicht fällt, hier einzuschlafen, Musse, mich in der neuen Umgebung umzusehen. Sie ist kälter, ungemütlicher als die entsprechenden Orte im Weltkrieg - schon desshalb, weil man damals in Holz und Erde hauste, während jetzt Beton und Eisen an ihre Stelle getreten sind. Die Architektur ist schwer und niedrig, wie für Schildkröten berechnet, auch erwecken die schweren Stahltüren, die luftdicht zuschnappen, ein Gefühl, als zwängte man sich in Kassenschränke ein. Der Stil ist finster, unterirdisch, eine Durchdringung von vulkanischem Schmiede- und rohem Zyklopenelement. Gleich neben dem Eingang steht ein Topf mit einer kalkigen Flüssigkeit, wohl gegen Kampfstoffverletzungen. Die Luft ist warm, ölig, schlägt sich feucht an den Wänden nieder; sie riecht nach Gummi, Steinkohlenfeuer und Eisenrost. Da sie sich schnell verschlechtert, muss jeder abgelöste Posten noch eine Viertelstunde an der Kurbel eines grossen Entlüfters drehen, der Frischluft durch einen Filter presst. Dazwischen hört man die Schläfer im Traume murmeln und die Klappen des Kastens fallen, an dem die Fernsprechwache sitzt. Sie antwortet mit "Hier Führer Kühlraum", wenn sie von meinem Zügen "Klara", "Fliederbusch" und "Limburg" angerufen wird. Auch melden sich das grosse mir unterstellte Werk "Alkazar" als "Fliegenpilz", das Bataillon als "Dämmerlicht" und das Regiment als "Adonis". Das Kauderwelsch passt nicht übel zur Architektur. Hinzu kommt für mich, dass ich neu in der Truppe bin. Die Aufgabe wird mir gleichsam als Silbenrätsel vorgeschüttet, aus dem ich erst den Text zusammensetzen muss.

(Bild: Der Westwall, auch "Siegfried-Linie", 630 Kilometer lang)

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