Tuesday, October 28, 2008

Kirchhorst, 19. Mai 1939


Der Schwager holte uns im Auto ab, und wir verbrachten den Tag im Lippischen und am Steinhuder Meer. In Rehburg strichen wir lange ums Vaterhaus und sahen das Giebelfenster, hinter dem Friedrich Georg und ich so viele Jahre hausten, bis dann der Krieg ausbrach. Wir sahen auch das Erkerfenster vor dem Zimmer, in dem wir, wenn die Eltern auf Reisen waren, unsere ersten galanten Feste zu vieren feierten. Wie lange liegt das schon zurück.

An den Bäumen, deren Umfang ich nach so vielen Jahren noch deutlich im Gedächtnis hatte, fiel mir auf, dass die Linden und die Kugelakazien nur sehr schwach gewachsen waren, viel stärker alle Obst- und Buchenstämme und am weitaus stärksten eine Trauerweide, die wir etwa 1912 als Rieslein an ein Wasserbecken gepflanzt hatten und die inzwischen riesenhaft gediehen war. Viel wirkt bei solchen Unterschieden wohl auch die Güte des Bodens mit. Vor allem aber merkte ich die andere Zeit, in der wir uns befinden, an den Entfernungen, die ich sämtlich als Strecken im Gedächtnis hatte, die man zu Fuss durchmisst. Nun flogen wir im Auto in Minuten zwischen diesen Punkten hin und her. In manchen Augenblicken aber war ich völlig in der alten Zeit, die in das Neue labyrinthisch eingebettet war.

Zu Mittag in Bad Rehburg, im Hotel von Tegtmeyer, der mit Friedrich Georg in einer Klasse war. Wir tauschten beim Wein Erinnerungen aus. Sehr gut, mit welcher Sicherheit er sich zuweilen mitten im Gerspräch erhob, um andere Gäste zu bedienen, und wie er dann zurückkehrte, mit einem Lächeln, das der Demaskierung glich. Wir fanden einen Zug an ihm, der ihn als Pastor gut gekleidet hätte, doch auch dem Wirt nicht übel stand. Übrigens ruht unter jedem Stande ein sakrales Fundament.

Wir tranken dann im Matte-Schlösschen Kaffee, im kleinen Zechgelass des Turmes, von dem aus man die Urlandschaft mit ihren Wässern, Mooren, Brüchen überschaut - die Wildnis, die Germanicus durchzog. E sliegt viel Melancholisches in ihr, auch Bitterkeit.

Dann in Stadthagen, wo wir im Schwefelwasser einer Kraterquelle Blumensträusse sahen, die dort seit vielen Jahren in Form und Farbe unverändert stehen - ein Schauspiel, das ich zauberhaft und auch ein wenig wiedrig fand. So könnte ein Tyrann vielleicht die Köpfe der erschlagenen Feinde aufbewahren, um sich, wenn er in seinem Garten wandelt, stets von neuem an ihrem Anblick zu erfreuen. Über die Autobahn, die ich zum erstenmal befuhr und deren hohes Mass an Technik mich erstaunte - machina machinarum - nach Kirchhorst zurück.

Unter der Post ein Album mit Bildern von Toulouse-Lautrec, mit einer Karte von René Janin. Um diese Farben zu geniessen, müsste man sich auf die Reize von Blumen verstehen, die im Welken sind. Es steckt auch Satanismus darin, wie es im Bilde der granatfarbenen Lusthölle mit dem Titel "Au salon" besonders deutlich wird. An anderen Stellen leuchtet das auch positiv hervor, so in der "Mailcoach", die auf glühendem Chassis vorüberwettert, während der Boden unter den Hufen der Vollblutpferde explodiert. An solchen Stücken wird man sich gewiss noch lange freuen; doch merkt man, wenn man sie betrachtet, wie sehr das Bild des 19. Jahrhunderts in uns noch schwimmt.

(Bild: "Le comte Alhonse de Toulouse-Lautrec conduisant un attelage à quarte chevaux", Henri de Toulouse-Lautrec, 1881)

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