Sunday, December 7, 2008

Schilfhütte, 13. Februar 1940

In den Morgenstunden wird es in der Schilfhütte kühl. Obwohl ich unter drei Decken und meinem Mantel im Schlafsack liege, tastet sich die Kälte allmählich zum Körper, bis an die Pulse, durch, und nach einer Weile unruhigen Schlummers entzünde ich die Kerze, die auf dem Wandbrett steht. Ihr Schein fällt auf die Decke, die aus Lagen des langen gelben Schilfes gebildet ist, das hier in feuchten Niederungen und am Rand der Seen wächst. Sein hohes knotiges Stroh wird in der Stellung so mannigfach verwendet, dass es ihr das Gepräge oder die Stimmung gibt. Vor allem liefert es den Stoff zur Tarnung der Strassen und Anmarschwege, die es duch langgedehnte Spanische Wände zugleich verblendet und weithin sichtbar macht. Auch sind die Ufer des Rheines zu beiden Seiten durch solche Rohrgardinen abgeschirmt. Und endlich dienen diese schlanken Halme zur Deckung der Wände und Dächer aller Bauten, die nicht, wie die Bunker, rein dem Kampfe gewidmet sind - wie der Latrinen, der Postenstände und der Hütten, in denen die Mannschaft wäscht und kocht und ihre Waffen reinigt und die wie Lauben oder Nester flüchtig an den Beton der Werke angeheftet sind. Während den Bunkern und den Drahtverhauen in dieser Winterlandschaft eine bleierne Schwere innewohnt, verleihen die gelben Bänder und Hütten ihr einen freien und sonderbaren Zug. So könnten Welten, in denen intelligente Vöge wohnen, besiedelt sein.

Neben der Kerze liegt ein Handbuch, in dem ich noch ein wenig lese, zumeist die Bibel und in diesen Tagen Boëthius. Weitere Bücher, draunter auch Schiess- und Kampfvorschriften, sind auf einem Holzbord aufgeschichtet, das sich nahe dem Schilfdach an der Wand hinzieht. Gleich über dem Lager sind Pistole, Gasmaske und Fernglas an Nägeln aufgehängt. Sonst weisen die rohen Bretter als Schmuck nur eine Stellungskarte auf. Zu erwähnen sind ferner der mit Karten und Papieren reich bedekte Tisch nebst einer Wandbank und dem Telefon, der Koffer und der kleine Ofen, der in seiner von der Glut gebräunten Ecke steht. Neben ihm trocknen kurze Knüppel von Erlenheistern, die ich am Schwarzbach fällen liess. Ihr Holz ist glänzend, hell genarbt und an den Schnitten gelblichrot verfärbt. Die Ofenhitze entlockt ihm einen Duft, der die Erinnerung an heisse Sommerstunden in den Sümpfen weckt.

Kurz vor acht Uhr tritt Rehm herein und zündet Feuer an. Dann giesst er Wasser ein und reicht mir beim Waschen und Rasieren die Gegenstände zu. Sehr aufmerksam und immer ein Augenblickchen eher, als ich sie brauche, als nähme er an einer feierlichen Handlung teil. Inzwischen fängt der Rest des Wassers an zu kochen und dient zum Teeaufguss. Es folgt das Frühstück mit Brötchen und Butter aus dem Dorfe Greffern; Ihm schliessen sich die ersten Geschäfte an.

So lese ich die Berichte des Offiziers und Unteroffiziers vom Stellungsdienst, während sich Urlauber und Arbeitskommandos abmelden. Neben der Schilfhütte liegt ein zweiter, ähnlicher Bau, in dem der Kompaniertruppenführer, wenn er des Morgens aus dem Bunker kommt, an seine Arbeit geht. Am Mittag trifft der Hauptfeldwebel aus Stollhofen hier mit Befehlen und der Unterschirftenmappe ein.

Während des Frühstücks hat Rehm die Blende vor dem Fensterchen entfernt; ich blicke aus ihm, wie schon so oft in meinem Leben, auf die Geflechte und Stacheln des Drahtverhaues, wie er, zusammen mit dem Sprengstoff und den Splittern, zu den Symbolen unserer Zeit gehört. Darüber leuchtet im Hintergrunde die Kuppel des Kirchturms von Stollhofen, und wenn ich mich dicht an die Scheiben beuge, fange ich mit dem Auge zugleich die Kirche von Schwarzenbach ein, die als ein mächtiges rotbraunes Steingebilde in unserem Rücken liegt. Sie scheint für ein so kleines Dort gewaltig, doch das erklärt sich daraus, dass sie als Zeugin eines längst zerstörten Klosters erhalten blieb. Zuweilen, wenn ich in Schwarzenbach zu schaffen habe, steige ich über wüste Böden und ein Gewirr von Treppen in ihren Turm hinauf, in dem ich die Batterie, die meinen Abschnitt überwacht, eine Beobachtung unterhält. Es ist dort recht gemütlich; ein elektrischer Ofen heizt die kleine Türmerstube, an deren Wände Schusstafeln, Feuerpläne und Tabellen hängen und durch deren Auslug man bei klarem Wetter das Strassburger Münster sehen kann.

Meist wird es zehn Uhr oder später, ehe der Rundgang durch die Stellung beginnt. Ich fange ihn, nachdem ich die Reservebunker besichtigt habe, über den Einstieg der Elefantenbrücke am rechten Flügel an. Die Posten und die Kommandanten melden auf die vorgeschriebene Weise, und zuweilen trete ich mit vorgefasster Absicht in eins der Werke ein. So prüfe ich einmal, ob die Handgranaten an ihrem Platze lagern, dann, ob die Türen luftdicht schliessen, ob die Waffen auf die befohlenen Ziele zeigen und ob die Bunkerbücher tagtäglich nach dem vorgeschriebenen Schema ausgefertigt sind. Auf diese Weise komme ich über die Zugführerbrücke bis zum Werk III mit seinen beiden Türmen und von dort zur starken Panzerfeste "Alkazar", die fast am linken Flügel liegt. Während des Rundgangs melden sich die Führer der im Abschnitt eingesetzten Pionier- und Arbeitszüge und ebenso die beiden Unteroffiziere, denen der Stellungsbau und die Beobachtung des Feindes besonders übertragen sind.

Da drüben die Ufer dicht bewaldet sind, ist von den Franzosen wenig wahrzunehmen, eine vorgeschobene Postierung ausgenommen, die von uns als "Grosse Tarnung" bezeichnet wird. Das ist ein Bauwerk, dessen Art uns Stärke unklar sind, da es sich gänzlich hinter dichten Matten und Tannengrün verbirgt. Doch ist es gut besetzt, wie aus den Posten, die sich sorglos zeigen, zu schliessen ist; auch wirbeln über die grünen Mauern Wolken von Tabakrauch empor.

Endlich, und möglichst um die Mittagsstunde, pflege ich noch in der Küche vorzusprechen, die im Zollhaus von Greffern liegt. Hier ist die Aufbewahrung, Güte, Zubereitung und Menge der Speisen nachzuprüfen, wobei es manchen Anstand gibt.

Den Rückweg nehme ich dann über den "Toledo"-Graben, der vom "Alkazar" durch die leeren Felder zum Gefechtsstand führt. Der Pfad liegt verödet, da er sich zum Teil durch überschwemmte Wiesen zieht, auf denen man mit Gummistiefeln die Fährte spüren muss. Dennoch ist dieser Abschnitt meines Ganges mir der liebste, und ich betrachte die halbe Stunde, die ich auf ihm verbringe, als mein Eigentum. Sie ist die einzige, die ich in voller Einsamkeit geniesse und die Ähnlichkeit mit meinem Leben in den vergangenen Jahren hat. So spinne ich auch in ihr die abgerissenen Pläne wieder an.

Diese Strecke mit ihren wechselnden Beständen lädt dazu ein, in kleinen Exerzitien Gedanken vorzuordnen und wieder zu zerstreuen. Sie führt entlangt alter Weiden, deren hohle Stämme sich halb im vergilbten Schilf verbergen, und mündet hier und dort in Mais- und Tabakfelder, die nicht abgeerntet sind. Diese Bestände wechseln mit dem hohen, verdorrten Kraut und Tobpinambur, die man im Volk die Schnapskartoffel nennt und deren in Zehen gespreizte Wurzel verfüttert wird. Dem gleichen Zwecke dienen schwere weisse Rüben, die in dem Viertel, in dem sie über dem Boden stehen, von der Sonne gerötet sind. Man erntet zunächst ihr grünes Kraut und mietet sie an Ort und Stelle in kleine Hügel ein, die dann im Winter nach Bedarf geleert werden.

Zuweilen belibe ich auch stehen, um mit meinem guten Glase die Tiere in den öden Feldern zu beobachten. Der Kiebitz flattert schreiend um die Ränder der überschwemmten Stücke, auf deren Inseln dunkle Schwärme von Krähen Wacht halten. Im Dickicht der Hindernisse, die in vielen Reihen labyrinthisch die Front begeliten und hoch von dürrem Gras durchsponnen sind, haben sich Rebhühner und Fasane eingenistet; sie schwirren vor dem Fuss des Wanderers davon. Sehr prunkvoll ist der Anblick des Fasanenhahns, der wie ein Spielwerk im Schimmer seiner bunten Bronzen aufsteigt, mit langem, durch den Wind gewellten Stoss. Auch Rehe treten in das Erlendickicht des Schwarzbachgrundes ein, während man in den kahlen Wipfeln seiner Pappeln Raubvögel Auslug halten sieht. Sie scheinen vor allem nach Maulwürfen auszuspähen, die das hohe Grundwasser dicht am Lichte bauen zwingt. Daher sind sie so wohlfeil, dass nur ihr Eingeweide noch ausgeschnäbelt wird, indes man die kleinen roten Rippenstücke verschmäht auf den verwaisten Hügeln leuchten sieht.

Über die mittelere der Schwarzbachbrücken kehre ich zum Gefechtstand zurück. Um diese Zeit pflegt Rehm Ausschau nach mir zu halten, und wenn ich die Tür der Hütte offne, dampft die Suppe auf dem Tisch. Meist gibt es Nudeln, Graupen, Weisskohl, Steckrüben oder Reis, im Glücksfall auch Linsen, Gulasch oder eine Scheibe Fleisch. Da ich den Abschnitt durch den Kompanietruppenführer, einen Oberförster, bejagen lasse, hängt in unserer Waffenkammer zuweilen auch etwas Wils, das wir für kleine Feste aufsparen.

Der Nachmittag wird meist mit kleinen Dienstgeschäften und Papierkrieg ausgefüllt. Zuweilen wandelt sich die Schilfhütte auch zum Tribunal, mit peinlichen Vernehmungen bei Kerzenlicht. Es handelt sich dabei stets um die gleichen Vergehen: Urlaubsüberschreitung, unerlaubte Entfernung, um in den kleinen Wirtschaften der Dörfer zu zechen oder Mädchen aufzusuchen, und Verstösse gegen die Wachtvorschirft. Der Nervenkrieg versetzt die Menschen in einen Zustand der Unfreiheit, in dem der reine Ablauf der Zeit bereits als Schmerz empfunden wird. Indem der Einzelne dem zu entrinnen sucht, fügt er sich leicht Beschädigungen zu.

An manchen Nachmittagen mache ich auch blau bei einem guten Kaffee, der mir von Freunden in feingemahlenen Portionen gespendet wird. Am Brett des kleinen Fensters picken Buchfinken, Blaumeisen und Hänflinge die Kuchenkrümel auf, unter denen eine kleine, rostrote Ratte Nachlese hält. Sie haust in den mit Weidengeflecht verstärkten Wänden der Schilfhütte, und jedesmal, wenn sie in ihr Nest einfährt, wird sie von ihren Jungen mit feinem, freudigem Pfeifen begrüsst. In anderen Teilen des Geflechtes treiben Maulwürfe, die Rehm als "Hamster" bezeichnet, ihr Wesen - wühlende, räumende Beweger von Lasten, die ein Geräusch erzeugen, das die Fähigkeit so kleiner Tiere bei weitem zu übersteigen scheint.

Dann naht die angenehme Stunde, in der mit der Abenkost zugleich die Post nach vorne kommt. Auch meldet sich die Abteilung zurück, die an der Reihe war, nach Schwarzenbach zum Baden geschickt zu werden - meist ein wenig angeheitert, doch ist diese Unordnung gesetzlich, da laut Kompaniebefehl nach dem heissen Bade, um Erkältungen vorzubeugen, ein Wirtshaus aufzusuchen ist.

Zum Abendessen setzt Rehm Wachskerzen auf, die einen angenehmen Duft ausströmen. Es folgt nun eine ausgedehnte Beschäftigung mit Büchern, da ausser der Korrespondenz die Leküre als einzige der gewohnten Geschäfte ist, das sich hier weitertreiben lässt. In den ersten Wochen pflegte ich um diese Stunde wie zu Hause Tee zu trinken, doch machte ich die Erfahrung, dass beim Leben so dicht am Boden Rotwein besser bekommt. Auf diese Weise lernte ich den deutschen Burgunder kennen, gegen den ich, wie gegen den deutschen Kaviar, ein Vorurteil besessen hatte, das unberechtigt gewesen war. In seinen besten Jahren, Lagen und Gewächsen gewinnt er einen kapriziösen Geist, den südlichere Gebirge zu entwickeln nicht fähig sind.

Natürlich gehören auch diese, wie alle vierundzwanzig Stunden des Tages, zum Dienst, und die Musse gleich der einer Spinne im Netz. Sowie an irgendeinem Punkt eine Berührung oder Beobachtung erfolgt, ertönt das Summen des Telefons. Gegen elf Uhr treffen die Melder von den Zügen ein, und um Mitternacht geht die Mogenmeldung an das Battailon.

Damit ist der Tag beendet, wenn nicht noch ein letzter nächtlicher Rundgang durch den Abschnitt folgt.

Beendet: Boëthius' "Consolationes", die ich im Bahnhof von Karlsruhe inmitten Betrunkener zu lesen begann. Der Gipfel des Werkes liegt in der Zuordnung von freiem Willen und göttlicher Fügung - Boëthius verlegt den freien Willen in die Zeit, die Fügung aber in die Ewigkeit. Da wir in beiden leben, so schalten wir in unseren Taten in vollen Freiheit, und dennoch sind sie zugleich in jeder Einzelheit vorherbestimmt. Auf diese Weise untersteht der Handelnde zwei Qualitäten, von denen die eine der anderen unendlich überlegen ist. Im höheren Rahmen mögen wir uns bewegen, wie wir wollen, dennoch verharren wir in ihm. In allem ist, wie ein Gewürz, auf wunderbare Weise zugelich die Ewigkeit.

Diese Einsicht ist einer der Punkte, eines der Kaps, an die das menschliche Denken gelangen kann. Kant zieht die theologische Unterscheidung auf logische Weise nach; seine alles zermalmende Wahrheit ist also eine Wiederholung der Wahrheit schlechthin. Im Grunde gibt es keine neuen Wahrheiten - neu ist hier eine wiedersprechende Eigenschaft.

Gewisse Beziehungen fielen mir beim Lesen auch zu Tolstoi auf - insbesondere zu dem merkwürdigen Vorwort, das "Krieg und Frieden" einleitet. In ihm untersucht Tolstoi die Tatsache, dass der Mensch als Einzelwesen seine Entscheidungen in voller Freiheit trifft und dass diese Entscheidungen dennoch in eine feste Statistik einmünden. So belibt die Zahl der Selbstmorde im Verlauf der Jahre sich beinahe gleich, nur die Motive ändern sich. Eine je grössere Anzahl freier Entscheidungen sich summiert, desto mehr verschwindet der freie Wille aus dem Resultat. Das erlaubt umgekehrt den Schluss, dass im freien Willen des Einzelnen ein unbekannter Faktor sich verbrigt, der in den Entschlüssen der Gattung sichtbar wird. Nach Tolstoi ist uns Willensfreiheit auch um so weniger gegeben, an je entscheidender Stelle wir tätig sind.

Was übrigens die "Tröstunegn" des Boëthius angeht, so glaube ich, dass der Schmerz durch sie auf keine Weise verringert werden kann. Wir müssen ihn auskosten. Während er indessen in den niederen Lebenskreisen chaotische Gewalt besitzt, gewinnt er in der Berührung mit dem hohen und edlen Sein Gestalt. Die Tröstung fügt ihn in einen goldenen Käfig, oder besser: in einen Altar ein, der höheren Wert besitzt als aller Schaden, den ein kurzes Menschenleben erleiden kann.

So wirkt die Tröstung, die sich Boëthius spendete, noch heute nach; und diese Wirkung in der Zeit ist nur ein Abglanz des höheren Gewinnes, wie das Gedicht ihn in dem Verse "Besiegte Erde schenkt uns die Sterne" sehr schön verheisst.

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