Thursday, July 16, 2009

Boulzicourt, 27. Mai 1940

Um acht Uhr Abmarsch. Überall die Totenstille, die mir bereits in Belgien aufgefallen war. Die Landschaft ist geräumt, und nur Soldaten, die samt ihren Pferden und Wagen auf den Strassen vorwärts streben, sind in ihr zu sehen.

Noch in den Morgenstunden rückten wir in Sedan ein. Die Stadt war stark zertrümmert; grosse Häuser waren durch Bombentreffer niedergestampft, andere ihrer Fassaden beraubt, so dass man wie auf architektonische Querschnitten das Innere von Zimmern und prunkvollen Sälen sah, auch Wendeltreppen, die in der Luft schwebten. In einer Nebengasse, die wir durchquerten, schien es lustig zuzugehen. Man sah Soldaten die Köpfe durch die blanken Sparren der Dächer stecken, andere hingen halb aus den Fenstern heraus. Sie liessen an roten Gardinenschnüren Burgunderflaschen herunterbaumeln, von denen ich, wie ein Fisch, der mit dem Köder abgeht, eine im Vorbeischreiten ergriff: 1937er Châteauneuf-du-Pape.

Wir verliessen die Stadt auf der Strasse nach Donchery, an der ich Nachkommen der berühmten Pappeln, aber auch Ulmen sah. Im Staub zur Rechten lag eine herrliche Angorakatze mit schwarzem, sammetbraun durchstrahltem Pelz, doch wie ein Teppich breitgewalzt, und als ich, um den Anblick schärfer zu erfassen, mich vom Pferde beugte, stieg Aasdunst von ihr auf. In den Gärten glühende Päonien, dazwischen Kaninchen, die am Salat knabberten. Kurze Rast, zum guten Glück bei einem Speicher voll Stiefeln und Decken, aus dem ich unseren Fehlbestand ergänzen liess. Mein Küchenunteroffizier, der eine Zeitlang neben mir marschierte, erzählte mir, dass sein Grossvater 1870, sein Vater 1914 und er jetzt 1940 durch diesen Ort gezogen seien.

Nicht fern von den berühmten Häuschen stand der General am Wege, begrüsste die Kompanie und fragte, während ich im Vorüberreiten meldete, nach meinem Wohlergehen.
"Danke, gut, Herr General. Darf man den hoffen, dass man noch ins Feuer kommt?"
"Sie kommen, Sie kommen - bei Saint-Quentin."

Weiter durch diese erstaunliche Landschaften. In den Dörfern und Städten rauchte kein Herd, kreuzte kein Kind, kein lebendes Wesen unsere Bahn. Oft drückte ich mein Gesicht gegen Fensterscheiben und sah dann in den Zimmern gedeckte Tafeln mit Tellern und Gläsern, doch keine Gäste - das Bild jäh unterbrochener Mahlzeiten. In den Kirchen standen noch die silbernen und goldenen Geräte auf den Altären, und in den Palästen schien das Leben entschlafen wie in Dornröschens Schloss - tot, tot, tot. Sehr merkwürdig war, dass in den Orten lange Reihen von Stühlen den Bordstein säumten, vom einfachen Küchenschemel bis zum prunkvollen Sessel in Rot und Gold - aber alle leer, als sässen Geister darauf. Übrigens fragte ich den einzigen Einwohner, den ich antraf, nach den Vorgängen - er erzählte mir, dass Militär mit Lastwagen erschienen sei, zur Durchführung der Räumung binnen kürzester Frist. Der Maire sei betrunken gewesen und die Unordnung ausserordentlich. Das tröstete mich ein wenig, denn ich erkannte, dass die Bilder die mich bedrücken, in der Natur der Sache liegen und nicht auf uns allein zurückzuführen sind. Die Dinge sind so beschaffen, dass aus dem Haus, das aufgegeben wird, der Nomos schwindet; die Laren und Penaten bleiben nicht zurück. Auf alle Fälle lernt man aus solchem Anblick die mächtige, fast unsichtbare Arbeit würdigen, die durch die Familie geleistet wird.

Das Ganze ist ein ungeheures Foyer des Todes, dessen Durchschreitung mich gewaltig erschütterte. In einem früheren Abschnitt meiner geistigen Entwicklung versenkte ich mich oftmals in Visionen einer völlig ausgestorbenen und menschenleeren Welt, und ich will nicht bestreiten, dass diese dunklen Träumereien mir Genuss bereiteten. Hier sehe ich die Idee verwirklicht und möchte glauben, dass, wenn auch die Soldaten fehlten, der Geist sehr bald gestört sein würde - ich fühlte schon in diesen beiden Tagen, wie der Anblick der Vernichtung an seinen Angeln hob.

Während des Marsches unterhielt ich mich hin und wieder mit unserem Waffenunteroffizier, der treffende Beobachtungen macht und, als er Sinn dafür bei mir entdeckte, öfters mit dem Rad vorauseilte und wiederkam, gewissermassen um mir Bilder zu apportieren, die er im Fluge erfasst hatte. So meinte er, es sei seltsam, dass man alle Musikinstrumente bestimmt am ersten zertrümmert träfe - das ist ein Symbol für den unmusischen Charakter des Mars, und, wenn ich mich recht entsinne, schon auf dem grossen Bilde von Rubens vermerkt, das dem Thema "Mars und die Musen" gewidmet ist. Die Spiegel dagegen seien meist unbeschädigt - er erklärte das daraus, dass man sie zum Rasieren brauche; es hat aber wohl noch andere Ursachen. Zur Dämonologie gehört, dass sich trotz der Eile des Vormarsches immer Leute finden, die sich die Zeit nehmen, in den Fenstern der verödeten Häuser absurde Gegenstände zur Schau zu stellen - ausgestopfte Vögel, Zylinderhüte, Büsten Napoleon III., Probierpuppen und ähnliches.

Am Wege zerschmetterte Flugzeuge, von denen eines, hinter Sedan, auf ein Dach gefallen war, das es mit seinen Flügeln umklammert hielt. Im Aufschlag hatte es nicht nur das Haus verkohlt, sondern auch das Grün der Bäume, die es umringten, im weiten Umkreis fahl und dürr gebrannt. In einem Waldstück Tanks, daraus Leichengeruch.

Am Frühen Nachmittag in Boulzicourt, dort Quartier. Besprechung in einem Garten; ich fand die Gesichter der Offiziere ausgeprägter, die Physiognomien wie ausgeschmolzen, aus geläutertem Erz. Als ich auf dem Rückweg in der Dämmerung über den zertrümmerten Martplatz kam, geriet ich in eine Art von Maskenball. Leute mit Zylindern, Strohhüten, Mützen von Eisenbahnbeamten und Tropenhelmen fuhren Karussell auf Motorrädern und Autos ohne Reifen, die sie notdürftig in Gang gebracht hatten. Dazu die Häuser mit zerfetzten Fensterläden, die Türen mit Warnungen wie "Im Keller Leichen" oder "Achtung, Minen" - angeschrieben wahrscheinlich von solchen, die ihr Quartier gern für sich allein hätten. Ferner ein Schlachterladen, auf dessen Blöcken und Bänken noch das Fleisch in Massen lag; ein schrecklicher Dunst drang durch seine roten Gitter hervor.

Ins Quartier, über eine kleine Brücke, an toten Pferden vorbei. Andere Tiere liegen in den Gärten, so eine grosse Dogge mit gelbem, von der Sonne des heissen Tages aufgeblähtem Fell.

In meinem Zimmer trank ich noch die Flasche Châteauneuf-du-Pape und dachte dabei an Burckhardt, dessen Lieblingswein das war. Man kann sagen, dass seine Befürchtungen sich erfüllt haben. Dazwischen blätterte ich in Papieren, die der Besitzer allen Anschein nach zusammengerafft und in der Eile doch vergessen hatte, so in seinem Ehekontrakt.

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