Wednesday, July 15, 2009

Givonne, 26. Mai 1940


Um fünf Uhr Abmarsch über Bertrix und Fays-les-Veneurs. Wieder die starken Zerstörungen. Die Einwohner scheinen in grösster Eile aufgebrochen zu sein. Oft sieht ein Haus von aussen noch sehr gut und wohnlich aus, doch wenn man durch die Fenster blickt, entdeckt das Auge den Stempel der Verlassenheit und äussersten Unordnung. Die Kühe stehen mit überfüllten, geschwollenen Eutern auf den Wiesen, von denen ihr klagendes Brüllen herübertönt. Nur auf den Strassen ziehen die Truppen, sonst sieht die Landschaft in ihrer Ausgestorbenheit und Menschenleere gespenstisch aus. Bald nachdem wir angetreten waren, kam der General vorbei, und wir erfuhren, dass wir heute statt Buillon, wohin wir die Quartiermeister entsandt hatten, noch Givonne erreichen sollten. Das war der zweite derartige Eingriff in unseren Marsch.

Im Walde vor Fays-les-Veneurs begegneten wir einer Kolonne von über viertausend Gefangenen, fast nur Farbigen, die gleich einer Kostüm- und Völkerschau an uns vorbeizogen. Auch einige Europäer waren darunter, die meisten mit Weltkriegsorden und schon weissem Haar. Nach einem Platzregen hielten wir auf einer feuchten Wiese Mittagsrast.

Während des ganzen Nachmittags marschierten wir durch ausgedehnte Ardennenwälder bergauf, bergab. Über die französische Grenze – da ich in Abwesenheit des Kommandeurs gerade das Bataillon führte, sandte ich einen Melder zurück, um Spinelli das „Ran wecke!“ aufzutragen. Am Wege immer wieder ausgebrannte Autos, abgeschossenen Flugzeuge, Gräber, Hausgerät. Die Wagen der Flüchtlinge glichen Schiffen; man sieht das Strandgut, wo sie gescheitert sind. Auch tote Pferde – bei einem ganz von Fliegen bedeckten, an dem wir vorbeikamen, meinte ein Melder: „Der kocht schon von innen“ und traf damit sehr gut den Zustand, in dem es sich befand. Zwischen dieses Chaos hindurch ziehen sich bereits die starken Kabel, an denen hin und wieder kleine Schilder hängen, die jeden, der sie beschädigt, mit dem Tode bedrohen. Es sind die Nervenstränge der Armee. Bei einer der Rasten besah ich ein kleines Werk, das, wohl um Panzerwagen aufzuhalten, gut eingebaut an einem Knick der Strasse lag. Die zierlichen Geschütze lugten noch durch die Scharten, Haufen von Hülsen waren um sie verstreut. Dann in den Stellungen, die das Werk umringten, bis plötzlich der Gedanke, dass Minen vor ihnen liegen könnten, mit das Studium verleidete.

Durch Bouillon, das eine alte Bergfestung überragt. Inmitten der Stadt zertrümmerte Häuser, niedergeworfene Strassenzüge, besonders rings um die alte Brücke in ihrem Kern. Leute kamen mit Weinflaschen vorbei; ich entsandte Rehm mit dem Fahrrad, um die Quelle aufzuspüren; er kam mit einigen Bouteillen Burgunder zurück. Wie er erzählte, war er in einem Heeresmagazin gewesen, in dessen Keller eine stark angeheiterte Gesellschaft beisammen sass. Überhaupt ist die Vormarschstrasse von Sekt-, Bordeaux-, und Burgunderflaschen gesäumt. Ich zählte wenigstens eine auf den Schritt, abgesehen von den Lagerplätzen, die aussahen, als ob es Flaschen geregnet hätte. Das gehört ja wohl bei einem Feldzug in Frankreich zur Überlieferung. Jeder Einmarsch germanischer Heere ist von einem Tieftrunk begleitet, wie ihn die Götter der Edda taten und dem kein Vorrat gewachsen ist.

Quartier in Givonne, mit Massenunterkunft im Schloss. Im Ort starke Verwüstungen; oft waren an den Stellen, an denen die Häuser gestanden hatten, nur ungeheure, mit gelben Wasser angefüllte Trichter zu sehen. Im Park frische Gräber deutscher Sanitätssoldaten, die dort durch Bombentreffer gefallen sind. Das Auto des Besitzers liegt, die Räder nach oben, im Schlossteiche. Ich schlief im Kinderzimmer neben einem Regal voll Bücher auf dem Boden und blätterte vorm Einschlafen noch in den Schulheften.

(Bild: Givonne, Postkarte, vue générale, um 1930)

No comments: