Thursday, August 6, 2009

Toulis, 6. Juni 1940


Marschierten bis Toulis, wo wir um vier Uhr morgens ankamen. Quartier in einem grossen Gutshof, die Männer auf den Böden, die Pferde im Freien, die Wagen und Küchen auf dem Hof. Im Bett, aber auf den Satteltaschen geschlafen, in einem engen, überplünderten Zimmer, in dem ein grosses Damenbild, eine Photographie aus Flauberts Tagen hing - von noch sehr dichter erotischer Substanz. Vorm Einschlafen leuchtete ich aus dem Bett die enggeschnürte Schönheit mit der Taschenlampe an und beneidete unsere Grossväter. Sie pflückten die Erstlinge der Dekompostition.

Der Nachtmarsch führte oft an Kadavern vorbei. Zum ersten Male gingen wir gerade auf das Feuer los, das in noch weiter Entfernung zu hören war - mit schweren, brechenden Einschlägen. Rechts Gruppen von Scheinwerfern, dazwischen gelbe, lang in der Luft schwebende, wohl englische Leuchtkugeln.

Da wir jeden Augenblick ins Gefecht treten können, schoss ich am Nachmittag bei starker Sonne mit meinen Zugführern die Maschinenpistolen ein, vor derer Feuerkraft ich einen guten Eindruck gewann. Ich liess vor einem Strohschober eine lange Reihe von leeren Weinflaschen, an denen es hier ja nicht fehlt, aufstellen und sie dann beschiessen, wobei ein jeder kurze Feuerstoss eine von ihnen auseinanderspritzen liess. Die Übung war zum Unheil einer alten, fetten Ratte angesetzt, die plötzlich mit blutender Schnauze aus ihrem Strohversteck schoss und die Rehm mit einer Flasche erschlug.

Auf dem Rückweg Unterhaltung mit einem alten Franzosen, der bereits den dritten Krieg sah, indem er sich dessen von 1870 aus seinem frünften Jahr noch zu entsinnen vermag. Verheiratet, drei Töchter; auf meine Frage, ob sie schön seien, gleichmütig die Hand bewegend: "Comme ci, comme ça." Übrigens empfand ich bei der Begegnung die Würde, die ein langes und arbeitsam verbrachtes Leben dem Menschen gibt.

Sehr heiss. In der Kirche. In einem ihrer Seitenschiffe einer Gruppe uralter Frauen auf Stroh, mit zahnlosen Mündern aus runden Näpfen Suppe schlürfend, die ein junges Mädchen ihnen brachte, das nun betend auf einer der Bänke sitzt.

Dann auf dem Friedhof. Hier zwei Männer, die ein Grab schaufelten - für einen Greis, den dritten der Flüchtlinge, die in den beiden Tagen gestorben sind. Sie wühlten in altbebautem Totengrunde; der eine von ihnen hob einen Schödel ans Licht.

Bedeutsam für Kriege und Schicksalskatastrophen überhaupt; das Hin und Her, das einmal den Einsatz als ganz unmöglich un dann wieder als sicher erscheinen lässt. Derart verharren wir im Ungewissen, bis endlich doch das Feuer kommt. Dabei ists in der Rechnung der hohen Generalität bereit seit langem vorherbestimmt. Das ist ein Gleichnis der Lebenslage überhaupt. Wir kommen um den Ernstfall nicht herum.

Gedanken beim gestrigen Nachtritt - über die Machinerie des Todes, die Bomben der Sturzkampfflieger, die Flammenwerfer, die verschiedenen Sorten der Giftgase - kurzum das ganze gewaltige Vernichtungsarsenal, das drohend vor dem Menschen zur Entfaltung kommt. Alles das ist nur Theater, reine Szenerie, die mit den Zeiten wechselt und etwa unter Titus nicht geringer war. Auch bei den Primitiven ist man solcher Sorgen nicht enthoben; man kann dort auf Stämme stossen, durch die man auf ausgesuchte Weise gefoltert wird. Die Schrecken der Vernichtung stellen sich, wie auf den alten Höllenbildern, stets in der höchsten Fülle technischer Einzelheiten dar.

Ewig dieselbe bleibt dagegen die absolute Entfernung, die uns vom Tode trennt. Ein Schritt genügt, sie zu durchmessen; und sind wir entschlossen, ihn zu wagen, dann gehört alles andere der Vorstellung oder der Versuchung an. Die Bilder, die uns auf diesem Weg begegnen, sind Spiegelbilder unserer Schwäche - sie wechseln mit den Zeiten, in denen wir geboren sind.

(Bild: In Fismes getötete deutsche Flammenwerfer-Bestazung)

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