Monday, January 5, 2009

Friedrichstal, 20. April 1940


Am Morgen im Wald. Indem ich eine Rindenschuppe vom Stamme einer Rosskastanie abblätterte, erblickte ich darunter einen mir unbekannten Mycetophagus - ein länglich ovales, dunkelbraunes Tier mit violettem Schimmer, zackigen Binden und gesternten Makeln aus goldenem Haar. Das ist doch die reine Schatzgräberei.

Das Studium der Insekten zählt zu den Genüssen, die mit dem Alter zunehmen. Die Kenntnis der Arten, wie man sie in dreissig, vierzig oder auch sechtzig Jahren der Betrachtung erwirbt, gleich einer Pyramide, an deren Spitze jeweils das neue Fundstück steht. Es leuchtet ein, dass mit der Masse der Erfahrungen auch das einzelne an Wert gewinnt.

Man könnte auch an ein Kreuzworträtsel denken, an dem das Vergnügen mit der Zahl der ausgefüllten Felder wächst. Aus diesem Grunde war das Leben von Männern wie Rösel, Dohrn, Fabre, Reitter, Seitz und Ganglbauer sicher sehr angenehm. Nur müssen wir, wenn ein so schönes Ackerfeld des Glückes uns anheimgefallen ist, uns vor den Seitensprüngen hüten, wie sie der junge Botaniker in Hoffmanns "Datura fastuosa" vollführt.

Am Nachmittag im Zimmer gedämmert - ich beobachtete dabei, wie schon des öfteren, dass solch ein geschlossener Raum unter gewissen Voraussetzungen zur camera obscura wird. Man sieht die Menschen, die draussen auf der Strasse gehen, in grosser Schärfe auf der Decke oder an der Wand. Warum wohl in der Betrachtung dieser Schattenbilder ein bösartiger Genuss verborgen liegt?

Am Abend schöner heller Vollmondschein. Wenn bei solcher Beleuchtung sich die Umrisse von Hecken, Zäunen, Lauben und anderen Gebilden auf den Boden abzeichnen, ergreifft uns zuweilen eine Stimmung, in der sich Bezauberung und Furcht vereinigen. Ich fragte mich schon oft, worauf sie beruhen mag, und meine, dass sich in diesem Schattenwerk die Formen zugleich enthüllen und vergeistigen. Sie treten in eine höhere Ordnung ein, in die der Unzerstörbarkeit, die ihrer Linienführung innewohnt. Die Dinge wirken in ihrem mathematischen Signet, stoffloser und mächtiger zugleich. Wir treten in Scheu in diese Schattengitter ein und scheinen, indem wir sie durchschreiten, mit nächtlicher Geisteskraft begabt. Doch halten wir zugleich den Atem an - wenn jetzt ein Zauberspruch erklänge, dann würden wir unwiderstehlich in die Materie gebannt.

Casanova. Die Historiker, die ihm nachrechnen, sind doch sehr langweilig. Die Quellen ersten Ranges springen hier in den Memoiren und nicht in den öffentlichen Registern von Venedig, Paris oder Wien. Den Menschen enthüllt man nicht, indem man ihn der Lüge überführt - er enthüllt sich vielmehr durch die Art und Weise, in der er lügt.

Casanova als Schauspieler. Kind von Schauspieler, Gefährte von Schauspielern. Seine Erscheinung, seine Spitzen, seine Diamanten, seine Dosen, sein Schmuck. Er fragt den Papst, ob er den ihm verliehenen Orden vom Goldenen Sporn mit Diamanten verzieren darf. Als Bernis ihm den Staatsauftrag erteilt hat, führt er ihn nicht als Diplomat, sondern als Schauspieler durch. Bei dem Gastmahl in Köln triumphiert er über den biederen Ketteler, der ihn wahrscheinlich an Substanz überlegen war, als Schauspieler. Ähnliche Züge spielen in das Duell mit Branicki ein, diese unerschöpfliche Quelle seiner Eitelkeit. Dort in Polen, wie überall wo er länger verweilt, mindert sich bald die Meinung, die man von ihm hegt. Er erwähnt das in seinen Aufzeichnungen, ohne dass es in seiner Erinnerung einen nachträglichen Schatten auf seine Triumpfe wirft. Das ist ein schauspielerhafter Zug; es genügt ihm, wenn er für den Abend blendet und glänzt. Dennoch könnte man nicht sagen, dass er den Sinnspruch "Mehr sein als scheinen" in sein Gegenteil verkehrt - und zwar deshalb nicht, weil Sein und Scheinen für ihn in einer besonderen Weise gleichbedeutend sind. Er ist Schauspieler von Geblüt; Bühnenerfolge sind daher für ihn real.

Übrigens - was kann er den ablügen? Etwa, dass er, der grosse Künstler auf diesem Gebiet, doch nur Frauen zweiten Ranges besessen hat? Es bleiben, Henriette eingeschlossen, Schauspielerinnen, Abenteurerinnen und Damen, die schlecht bei Kasse sind. Was Auswahl betrifft, gibt es andere Amatores, wie Byron, an denen man sich ein Beispiel nehmen soll. Merkwürdig, dass der Chevalier über alles, was Manon Baletti anbetrifft, nur dahingleitet. Sie nahm aber doch wohl den grössten Raum in seinem Leben ein - freilich hinter den Kulissen, und davon spricht man nicht.

Wie erklärt sich die Anziehung, die dieser an Fehlern reiche Venezianer auf uns übt? Nach welchem Muster wählt unser Gedächtnis aus der ungeheuren Fülle derer, die jemals leten und sich hervortaten? Warum ist uns ein Vagabund wie Villon noch vertraut, während unzählige Ehrenmänner, die zu seiner Zeit einen Namen besassen, der Vergessenheit anheimgefallen sind? Dem muss das Mass an ungesonderter Lebenskraft zugrunde liegen, die, wie Saft aus den Wurzeln, in die Taten und Werke steigt - eine Kraft, in der wir jenseits aller Verdienste und aller Moral uns selbst erkennen, weil sie unser gemeinsames Erbteil ist.

(Bild: Giacomo Casanova portraitiert von Alessandro Longhi)

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