Wednesday, August 26, 2009

Laon, 8. Juni 1940


Abends noch Bernanos gelesen - im ersten Buch, das dieser Autor seit seinem Auszug nach Südamerika veröffentlichte. Ich fand es hier im Haus und dachte vor dem Einschlafen noch über die Lage dieses Geistes nach, die ja auch gleichnishafte Züge trägt. Bevor ich nach Paris fuhr, hatte Steiner mich lebhaft aufgefordert, ihn zu besuchen; und vielleicht war es nur seine Berühmtheit, die mich davon abhielt, denn von jeder Bekanntschaft, die man erstreben kann, hat die mit berühmten Leuten stets am wenigsten gelockt. Es scheint, dass in dem Grade, in dem wir uns einen Namen machen, wir auch an Qualität verlieren - und zwar an jener, die man als die des Nachbarn bezeichnen kann. Im gleichen Mass, in dem die Menschen für die Menge bedeutend werden, büssen sie ihren Wert als Nächste ein. Vor allem sieht man das an den Frauen: um wieviel spendender ist doch die nächste beste als jene Sterne, die man auf allen Titelblättern sieht.

Mitten in der Nacht erwachte ich durch Bombenwurf, der in nicht allzu weitem Umkreis niederging. Ich wollte in den Keller steigen, fand aber meine Stiefel nicht. So liess ichs denn und schlief bald wieder ein.

Am Vormittag machte ich mit Spinelli einen Streifzug durch die heissen Gärten am Berghange. Rosen, weisse Pfingstrosen, Jasmin. In verschiedenen Häusern, die zum Teil Treffer bekommen hatten. In einem von ihnen war durch die Wand des Speisezimmers ein seidener Bajazzo zu erblicken; er thronte lässig auf dem Büffet, das über einem Abgrund hing. Aus einem Wäscheschrank nahm ich ein Handtuch, an dem es mir mangelte. Was das Beitreiben anbetrifft, so gibt es darin ganz bestimmte Grenzen, die ich den Männern deutlich zu machen suche. So darf der Soldat einen Löffel an sich nehmen, wenn ihm der eigene verloren ging - unter Umständen auch einen silberenen, wenn er gerade darauf stösst, doch keinesfalls dann, wenn ein Blechlöffel daneben liegt. Wir erreichten die Mauer der Zitadelle an einer Stelle, an der sie die Jahreszahlen 1598 und 1498 eingemeisselt trug.

Zum Essen hatte Rehm die ersten Kartoffeln und die ersten Kirschen aus den Gärten eingeheimst. Zuvor schon hatte ich meiner alten Passion, grüne Erbsen vom Busch zu pflücken, gefrönt. Mir scheint, das man in ihnen einen Auszug der feinsten Kräfte der Natur verspeist.

(Bild: Georges Bernanos, französischer Schriftsteller, 1888-1948)

Sunday, August 9, 2009

Laon, 7. Juni 1940


Über Nacht noch in Toulis, wohl wegen des Wiederstandes, den der Angriff vor unserem Abschnitt gefunden hat. Der Franzose verteidigt sich auf den Höhen am Aisne-Oise-Kanal, und innerhalb der Nachmittagsstunden des gestrigen Tages gelang es der 25. Division, in die Waldstücke südlich Sancy vorzustossen. Unsere 96. Division bleibt vorerst in ihrem Raume, kann aber stündlich antreten.

Gegen Mittag Abmarsch nach Laon, das weithin von seinem Berge sichtbar ist. Die Stadt, in der ich schon 1917 weilte, lebt mir als vorgeschobene romanische Kernzitadelle in der Erinnerung, und ich glaube nicht, dass mein Gefühl mich trügt. Man spürt die Witterung, die um uralte Heiligtümer webt.

Am Wege wieder tote Pferde, davon zwei auf dem Grundwasser eines riesigen Granatentrichters treibend, auch zerschossene Tanks. Starke Zertrümmerungen an den Ortseingängen und in den Vorstädten: Barrikadenlandschaften.

Glühende Hitze, auch in der Stadt. Ich liess die Gewehre zusammensetzen und sandte Quartiermacher in das uns zugeteilte Viertel aus. Während ich in dieser Pause mit Spinelli in bequemen Rasierstühlen sass, die wir aus dem Laden eines Coiffeurs auf die Strasse geholt hatten, fuhr der General vorbei und rief mir zu, dass Soissons heute erobert, der Aisnekanal an drei Stellen überschritten sei.

Quartiere am Stadtrand; ich zog mit den beiden Offizieren in eine Villa mit grossem Garten und geräumiger Terrasse ein. Da die Keller zum Teil noch trächtig sind, entsandte ich ein Fahrzeug, das bald mit Rotwein in Flaschen und Fässern wiederkam. Zu solchen Geschäften muss man findige Köpfe wählen, die sich auch bald herausstellen. Die anderen kommen mit Essig, vinaigre, statt Wein und bringen Dosen voll Farben statt Konserven mit. Dann liess ich ein Rind schlachten, da das gelieferte Fleisch anrüchig war. Ich bezeichnete es unter einer grossen Herde, die in den Gärten weidete, von der Terrasse aus. Seit Olims Zeiten zählt zu den Zeichen des frischen Siegers der Überfluss an Fleisch.

Ein grosser Teil der Kompanie hat sich mit Rädern ausgerüstet, unter denen man auch Tandems, Damenräder und kleine Motorräder sieht. Dem Oberst ist das, ebenso wie die Verzierung der Farzeuge mit grotesken Symbolen, ein Greuel. Er stellte sich bei einem Brunnen geschickt auf Anstand und sperrte einen Mann, der neben der Kolonne im Tropenhelm marschierte, vom Fleck weg ein.

Diese Zeilen schreibe ich, nachdem wir uns im Badezimmer mit Wasser hatten übergiessen lassen, auf der Terrasse sitzend und Liköre wie Cointreau und Fine Champagne kostend, die wir in der Hausbar vorfanden. Aus der Entfernung eines kleinen Marsches, vom Chemin des Dames, tönt das Spiel der Artillerien zu uns herüber: in einer langsamen Häufung von Einschlägen, stürzenden Gebirgen gleich. Sie spinnen sich in fürchterlicher Unterhaltung fort. Wenn man sie hört, wie ich sie heute höre, dann weiss man, dass es zwischen Menschen, und wenn sie mit Engelszungen reden würden, eine Grenze des Wortes gibt. Dann erheben sich diese Stimmen aus Erz und Feuer, die auf die Furcht berechnet sind - und wirklich, die Herzen werden bis auf den Grund geprüft.

(Bild: Gefallener deutscher MG-Schütze, Westfront, 1. Weltkrieg)

Thursday, August 6, 2009

Toulis, 6. Juni 1940


Marschierten bis Toulis, wo wir um vier Uhr morgens ankamen. Quartier in einem grossen Gutshof, die Männer auf den Böden, die Pferde im Freien, die Wagen und Küchen auf dem Hof. Im Bett, aber auf den Satteltaschen geschlafen, in einem engen, überplünderten Zimmer, in dem ein grosses Damenbild, eine Photographie aus Flauberts Tagen hing - von noch sehr dichter erotischer Substanz. Vorm Einschlafen leuchtete ich aus dem Bett die enggeschnürte Schönheit mit der Taschenlampe an und beneidete unsere Grossväter. Sie pflückten die Erstlinge der Dekompostition.

Der Nachtmarsch führte oft an Kadavern vorbei. Zum ersten Male gingen wir gerade auf das Feuer los, das in noch weiter Entfernung zu hören war - mit schweren, brechenden Einschlägen. Rechts Gruppen von Scheinwerfern, dazwischen gelbe, lang in der Luft schwebende, wohl englische Leuchtkugeln.

Da wir jeden Augenblick ins Gefecht treten können, schoss ich am Nachmittag bei starker Sonne mit meinen Zugführern die Maschinenpistolen ein, vor derer Feuerkraft ich einen guten Eindruck gewann. Ich liess vor einem Strohschober eine lange Reihe von leeren Weinflaschen, an denen es hier ja nicht fehlt, aufstellen und sie dann beschiessen, wobei ein jeder kurze Feuerstoss eine von ihnen auseinanderspritzen liess. Die Übung war zum Unheil einer alten, fetten Ratte angesetzt, die plötzlich mit blutender Schnauze aus ihrem Strohversteck schoss und die Rehm mit einer Flasche erschlug.

Auf dem Rückweg Unterhaltung mit einem alten Franzosen, der bereits den dritten Krieg sah, indem er sich dessen von 1870 aus seinem frünften Jahr noch zu entsinnen vermag. Verheiratet, drei Töchter; auf meine Frage, ob sie schön seien, gleichmütig die Hand bewegend: "Comme ci, comme ça." Übrigens empfand ich bei der Begegnung die Würde, die ein langes und arbeitsam verbrachtes Leben dem Menschen gibt.

Sehr heiss. In der Kirche. In einem ihrer Seitenschiffe einer Gruppe uralter Frauen auf Stroh, mit zahnlosen Mündern aus runden Näpfen Suppe schlürfend, die ein junges Mädchen ihnen brachte, das nun betend auf einer der Bänke sitzt.

Dann auf dem Friedhof. Hier zwei Männer, die ein Grab schaufelten - für einen Greis, den dritten der Flüchtlinge, die in den beiden Tagen gestorben sind. Sie wühlten in altbebautem Totengrunde; der eine von ihnen hob einen Schödel ans Licht.

Bedeutsam für Kriege und Schicksalskatastrophen überhaupt; das Hin und Her, das einmal den Einsatz als ganz unmöglich un dann wieder als sicher erscheinen lässt. Derart verharren wir im Ungewissen, bis endlich doch das Feuer kommt. Dabei ists in der Rechnung der hohen Generalität bereit seit langem vorherbestimmt. Das ist ein Gleichnis der Lebenslage überhaupt. Wir kommen um den Ernstfall nicht herum.

Gedanken beim gestrigen Nachtritt - über die Machinerie des Todes, die Bomben der Sturzkampfflieger, die Flammenwerfer, die verschiedenen Sorten der Giftgase - kurzum das ganze gewaltige Vernichtungsarsenal, das drohend vor dem Menschen zur Entfaltung kommt. Alles das ist nur Theater, reine Szenerie, die mit den Zeiten wechselt und etwa unter Titus nicht geringer war. Auch bei den Primitiven ist man solcher Sorgen nicht enthoben; man kann dort auf Stämme stossen, durch die man auf ausgesuchte Weise gefoltert wird. Die Schrecken der Vernichtung stellen sich, wie auf den alten Höllenbildern, stets in der höchsten Fülle technischer Einzelheiten dar.

Ewig dieselbe bleibt dagegen die absolute Entfernung, die uns vom Tode trennt. Ein Schritt genügt, sie zu durchmessen; und sind wir entschlossen, ihn zu wagen, dann gehört alles andere der Vorstellung oder der Versuchung an. Die Bilder, die uns auf diesem Weg begegnen, sind Spiegelbilder unserer Schwäche - sie wechseln mit den Zeiten, in denen wir geboren sind.

(Bild: In Fismes getötete deutsche Flammenwerfer-Bestazung)

Wednesday, July 29, 2009

Gercy, 5. Juni 1940

Am Morgen wieder Ritt durch die schönen Felder, zur Besprechung der neuen Erfahrungen im Angriffsgefecht. Man kann jetzt vorgehen, wie es 1918 unser Traumbild war. Die Pikardie mit ihren sanften Hängen, den Dörfern, die in Obstgärten eingebettet sind, den Triften, an deren Rändern die hohen Pappeln stehen - wie oft hat diese Landschaft mich schon entzückt. Hier spürt man elementarisch, dass man in Frankreich ist; aus diesem Grunde können Tal und Hügel dem Vaterlande nie verlorengehen.

Ich unterhalte mich täglich, schon zur Übung, ausgedehnt mit unserer Wirtin, wobei es immer zu lernen gibt. So heissen die Bienen, les abeilles, leichthin gesprochen auch: les mouches.

Abends Essen beim Kommandeur. Beim Nachtisch erschien ein Melder vom Regiment mit dem Befehl, in einer Stunde marschbereit zu sein. Der neue Angriff soll heut morgen begonnen haben; wir hörten hier nichts davon. Ich schreibe diese Zeilen, während Rehm beim Packen ist.

Gercy, 4. Juni 1940


Ritt durch die Felder und Wiesen, auf denen das ungemähte Kraut in vollem Saft stand - durch Schläge von goldgelben Kompositen, von Margeriten, die mit ihren Sternen den Bauch der Pferde streiften, und durch hellen, grellroten Klee, wie ich ihn sonst nur auf sizilischen Berghängen sah.

Nachmittags Besprechung beim Oberst Köchling; es scheint, dass unseres Bleibens hier nicht mehr lange ist. Abends wieder Gang durch die verlassenen Häuser; als ich ein Zimmer öffnete, stiess ich auf einen grossen schwarzen Hund, der mich mit glühenden Blicken anstarrte. Eilig trat ich in eine Nebenkammer und sah dort auf dem Sofa eine gelbe Dogge und auf dem Boden einen weissen Pinscher, der mich wütend ankläffte. Hier schien das Versammlungslokal der verwaisten Hunde zu sein.

Die Blumen in der Gärten - eine blassviolette Iris mit den gelben Staubbürsten auf dem Kelchblatt, die einen erotischen Eindruck hervorrufen. Der Genuss der Bienen und Hummeln, muss ausserordentlich sein. Vielleicht sind übrigens alle unsere Theorien über die staatenbildenden Tiere verkehrt und ist Genuss, was wir als Arbeit ansehen. Dann die letzten Fliegenden Herzen und Pfingstrosen, auch Phlox, der in der Dämmerung betäubend roch. Um diese Stunden wachen auch seine Farben auf, und Schwärmer umkreisen ihn. Der Phlox, die Flammenblume, ist einzeln unansehnlich, dagegen üppig in grösseren Beständen - das ist der Hegelsche Umschlag in die Qualität.

(Bild: Phlox, Flammenblume)

Gercy, 3. Juni 1940

Ein zweiter Ruhetag in Gercy, dem vielleicht noch weitere folgen werden. Nach den Operationen im Norden findet wohl eine neue Bereitstellung der Panzertruppen statt, zum Stoss auf Paris. Auch unsere Division wird ihn begleiten, doch halte ich es leider bei den neuen und unerwarteten Angriffsgeschwindikeiten für möglich, dass wir Bewaffnete kaum zu Gesicht bekommen werden, falls nicht der Vormarsch in der Marnegegend eine Stockung erfährt. Vor allem bedenklich scheint es mir für den Gegner, dass man kein Flugzeug mehr von ihm zu sehen bekommt.

Ich unterhalte mich viel mit der alten Dame, Madame Robeau, die mir erzählt, dass sie schlafen könne, seit wir im Hause sind.

Gercy, 2. Juni 1940


Gespräch mit der alten Dame, die siebzig Jahre zählt. Ihre Kinder und Kindeskinder sind geflüchtet, ohne dass sie weiss, wohin. Sie erzählte mir, dass bei unserer Annäherung eine Art von Panik ausgebrochen sei. Ihre Tochter hatte sich, während sich in der Nähe von Gercy ein kleines Gefecht entwickelte, mit den Kindern in ein Auto geworfen und war davongejagt, als schon Geschosse um den Wagen herumsausten. Die Alte kränkelte wie eine Pflanze, die man an den Wurzeln erschüttert hatte. Ich sprach ihr Trost zu und Befahl den Ordonnanzen, die sehr verständig sind, ihr jede Arbeit, auch die des Kochens, abzunehmen.

In der Kirche, die verlassen steht. Doch läutet der Aumônier, der zurückgebliben ist. In der Sakristei ein kleines Lager von Abendmahlswein. Indessen schien es, dass durstige Gemüter ihn der kanonischen Vorschrift: "Vinum sacramentale debet esse de gemine vitis et non corruptum" gerecht erfunden hatten, denn die Flaschen lagen geleert am Boden verstreut.

Abends beim Kommandeur. Ich durchblätterte bei ihm ein vielbändiges Werk, in dem die Gemälde des Louvre abgebildet sind, und dachte dabei an das Gespräch zwischen Nietzsche und Burckhardt vor siebzig Jahren über das Schicksal dieser Sammlungen.

(Bild: "La retraite de l'aumônier" von Jules-Alexis Muenier, 1886)